1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
sodass ich das Flattergeräusch fast zu spät hörte. Es erreichte mich von der linken Seite. Ich beging nicht den Fehler, den Kopf zu drehen, fuhr stattdessen instinktiv zurück, und so erwischte mich der Rabe nicht voll. Etwas fuhr dicht an meinem Gesicht vorbei, ein stechender Schmerz war für einen Moment zu spüren, dann war der Vogel weg.
Ich beugte mich vorsichtig aus dem Fenster, weil ich noch mit einem zweiten Angriff rechnete, der jedoch nicht erfolgte, und den gefiederten Angreifer sah ich auch nicht mehr.
Mist, verdammter. Das dachte ich in dem Augenblick, als ich den feuchten Fleck an meiner Stirn spürte und merkte, dass von ihm aus etwas nach unten rann.
Ich schloss das Fenster, stellte mich vor den langen Wandspiegel und sah, was ich mir schon gedacht hatte.
Der Schnabel des Vogels hatte mich dicht unter dem Haaransatz an der Stirn erwischt. Eine kleine Wunde klaffte dort, aus der ein dünner Blutfaden rann.
Der nächste Weg führte mich zurück ins Bad, und ich nahm mir vor, die Tiere auf keinen Fall zu unterschätzen. Pflaster hatte ich immer bei mir.
Ich musste es nur hervorholen, reinigte die Wunde mit Wasser und klebte dann das Pflaster darüber.
Ich schnappte mir die Jacke und machte mich auf den Weg nach unten.
Ich war gespannt, ob meine Freunde Ähnliches erlebt hatten…
***
Suko wartete bereits. Bevor ich an die Rezeption trat, warf ich noch einen Blick in die Halle, die sich links von mir ausbreitete. Hohe Fenster, die bis zum Boden reichten. Sitzgruppen mit unterschiedlichen Polstermöbeln verteilten sich im großen Foyer.
Harry Stahl traf wenig später ein. Als er mich anschaute, bekam er große Augen.
»He, hast du dich geschnitten?«
»An der Stirn rasiere ich mich nicht.«
»War es der Rabe?«
»Ja.«
»Das hatte ich nicht so direkt fragen wollen.«
»Und ich auch nicht«, meinte Suko und grinste leicht.
»Hört auf, euch über mich lustig zu machen. Mal im Ernst. Wir stehen auch hier unter Kontrolle.«
»Hast du was anderes erwartet?«, fragte Suko.
Ich hob die Schultern. »Na ja, ich hatte schon gedacht, hier einigermaßen in Sicherheit zu sein.«
»Wenn die wollen, fliegen sie auch ins Hotel«, gab Harry zu bedenken.
»Lieber nicht.« Ich drehte mich um und ging die vier Schritte bis zur Rezeption, wo die etwas ältere Frau, die eine Brille mit schwarzem Gestell trug, uns lächelnd anschaute.
»Was darf ich denn für Sie tun, meine Herren?«
Harry übernahm die Antwort. »Sie kennen sich doch sicherlich aus, Frau Schneider.« Den Namen hatte er auf dem kleinen Schild gelesen, das die Frau am Revers trug.
Sie lächelte leicht. »Wie man es nimmt. Wobei kann ich Ihnen denn behilflich sein?«
»Es geht uns nicht um Wanderwege oder ähnliche Dinge, die für Touristen interessant sind. Wir sind auf der Suche nach einem Mann, der hier wohnt.«
»Oh - hier im Hotel? Über Gäste geben wir…«
»Nein, nein, da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Der Mann lebt im Ort.«
»Gut. Und wie heißt er?«
»Er nennt sich Fabricius.«
Jetzt war es heraus, und die Frau hinter der Rezeption sagte erst mal gar nichts. Sie wich nur einen Schritt zurück, als würde sie sich vor uns fürchten.
Harry lächelte leicht verlegen. »Habe ich möglicherweise etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein, das haben Sie nicht. Es ist nur - na ja, der Name, wissen Sie?«
»Was ist mit ihm?«
Frau Schneider dachte über die Antwort etwas länger nach. »Ich möchte ja keinem Menschen etwas nachsagen, aber dieser Mann ist schon seltsam. Ein Einzelgänger. Man kann ihn sogar als einen Eremiten bezeichnen. Er hält sich von den Menschen fern.«
»Aber er lebt hier?«
»Ja, in einem kleinen Haus. Wenn Sie es erreichen wollen, müssen Sie an der Rückseite des Hotels die Straße hochfahren. Dort, wo sie ihre höchste Stelle erreicht, finden Sie dann einen Pfad, der zu seinem Haus führt. Noch mal, ich denke nicht, dass er begeistert sein wird, wenn Sie ihn besuchen. Es sei denn, er hat Sie eingeladen. Und Sie wissen ja, was mit ihm sonst noch ist, meine Herren.«
»Das wissen wir nicht«, sagte Harry sicherheitshalber.
»Er ist blind.«
Harry sagte nichts mehr. Er zuckte nur leicht zusammen. Auch Suko und ich waren überrascht.
Unser deutscher Freund fing sich als Erster wieder und fragte: »Tatsächlich?«
Frau Schneider lächelte. »Ja. Erlebt dort als Blinder und kommt sogar gut mit seiner Behinderung zurecht. Er geht allein in den Ort und auch den steilen Weg wieder
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