163 - Canyon der toten Seelen
Schnellwasser auf, ja? Ich verlasse mich auf dich!«
Wenn es etwas auf der Welt gab, das Sandperle mehr als alles andere liebte, dann war es ihre Tochter. Kristallträumer wollte ja schon lange einen Sohn dazu, aber das hatte sie bisher verhindert. Noch war nicht absehbar, welches Erbe Sonnentau in sich trug und wie lange das Kind lebensfähig war. Sandperle könnte es nicht ertragen, am Ende nicht nur eines, sondern zwei Kinder zu verlieren. Zu oft hatte sie diese Tragödie bei anderen miterleben müssen.
Das Felsenvolk ging seinen gewohnten Tätigkeiten nach und achtete nicht auf den Schamanen und seine Frau, als sie zur Ritualhütte gingen. Nur einmal im Jahr war es für sie von Belang, wenn Kristallwasser öffentlich das Lebensritual zelebrierte.
Um sie herum lebte der Wald. Viele verschiedene Stimmen kreischten, pfiffen, fauchten und zischten. Sandperle kannte sie nicht alle; manchmal kam es ihr so vor, als würde jeden Tag eine neue Lebensform auftauchen. Meistens war sie den Menschen feindlich gesinnt, giftig oder angriffslustig. Nur wenige Tiere waren zum Verzehr geeignet (was sie nicht weiter störte, da sie ohnehin aus Überzeugung kein Fleisch aß.
Deswegen war Sandperles Heilbegabung von so besonderer Bedeutung.
Schemen huschten von Baum zu Baum, dunkelschnäblige Flügelwesen flatterten zwischen den Ästen hindurch.
Doch es war kein Ort der Freude. Niemand lachte oder sang.
Auch die kleine Sonnentau hatte noch nie in ihrem Leben gelacht. Ihre Augen waren stets groß und fragend. Sie war scheu und still. Sie weinte auch nie.
Es wäre schön gewesen, einmal unbeschwertes Kinderlachen zu hören. Sie sollten fröhlich in der Siedlung herumlaufen und spielen, zwischen den Erwachsenen, und sie mit ihren Späßen aufheitern. Man könnte abends, anstatt immer nur Geschichten aus der Vergangenheit des Felsenvolkes zu erzählen, einfach mal aus Freude an den Klängen singen, Grasharfe oder Maultrommel spielen und dazu tanzen, ganz ohne rituelle Bedeutung.
Sandperle wunderte sich manchmal über ihre seltsamen Gedanken und Wünsche, denn keiner sonst schien sie zu haben. Alle schienen mit ihrem Dasein zufrieden zu sein, vor allem, seit Kristallträumer die Geschicke des Volkes lenkte.
Es stimmte schon, vieles hatte sich seither zum Guten verändert. Die Kindersterblichkeit war gesunken, die Ernte besser, es gab keine gegenseitigen Angriffe und Gewalttaten mehr.
Trotzdem… fehlte etwas.
Und Sandperle mochte es nicht, wie Kristallträumer Schnellwasser benutzte. Der Junge war labil und bei weitem nicht so stark wie seine Schwester. Er war auch nicht gesund und brauchte viel Fürsorge. Die Überbeanspruchung seiner mentalen Kräfte zehrte an ihm und zerrüttete zusehends seinen Geist. Obwohl sie beide längst erwachsen waren, fühlte Sandperle sich immer noch für Schnellwasser verantwortlich und litt mit ihm, wenn er seine Anfälle erlitt. Sie waren mit der Zeit schlimmer geworden, seit Kristallträumer ihn ganz für sich beanspruchte und seine Kräfte für seine Zwecke erweiterte.
Aber sie konnte nichts dagegen tun. Niemand widersprach dem Schamanen, denn er wusste, was er tat, und dass es das Richtige war. Er war zum Anführer des Felsenvolkes geboren, er sah und wusste Dinge, die ihm niemand beigebracht hatte.
Er begriff die Zusammenhänge des Lebens besser als jeder andere. Und er verfügte über die einzigartige Fähigkeit, andere zu überzeugen, ohne sie durch Angst gefügig zu machen. Sie wären ihm alle in den Tod gefolgt, wenn er es verlangt hätte – freiwillig.
Auch Sandperle. Doch manchmal regte sich in ihr ein leiser Funke des Widerstands, der ihr sagte, dass dies nicht richtig war. Dass es andere Wege gab, um das Felsenvolk aus dem Elend zu führen.
Vor allem, weil es da draußen noch eine andere Welt gab, mit vielen Menschen, die ähnlich waren wie sie, deren Gedanken und Gefühle sie spüren konnten und die ebenfalls in Frieden lebten. Sandperle musste zugeben, dass Windtänzer sie interessierte, sein Wissen, seine Fähigkeiten. Was ihn unterschied von Kristallträumer.
Eines hatte sie schon herausgefunden: In seinen Augen lag Wärme, ebenso in seiner Stimme. Er machte sich Sorgen um andere, und… seine Tochter lag ihm am Herzen. Schmerz hatte in seiner Stimme gelegen, als er von ihr gesprochen hatte.
War es richtig?
»Wo bist du mit deinen Gedanken, Frau?«
Sandperle hatte gar nicht gemerkt, dass sie inzwischen die Hütte erreicht hatten, so tief war sie in Gedanken versunken
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