163 - Canyon der toten Seelen
gewesen. Sie zuckte zusammen, als Kristallträumer sie unsanft hinein schob und die Tür hinter sich schloss. Reglos blieb sie stehen, während er in der Mitte des runden, niedrigen Raumes ein Feuer in einem Kessel entzündete. Der Bodensatz bestand aus einer Schicht dunkler Kristalle, darauf waren Hartholzstücke, Blätter und getrocknete, stark riechende Kräuter gelegt. Bald verbreitete sich in der kleinen, fensterlosen Hütte das rötliche Licht der Flammen, und die Sinne benebelnder Rauch erfüllte die Luft.
Über dem Kessel hing eine kleine Schale, in der es bald leise zu zischen und zu brodeln begann.
Sandperle atmete den Rauch in ruhigen, gleichmäßigen Zügen ein und merkte, wie sich allmählich Benommenheit in ihrem Verstand ausbreitete. Kristallträumer hatte bereits seine Kleidung abgelegt, tauchte einen Finger in die Schale über dem Feuer und fing an, seinen Körper mit dunkelblauer Farbe zu bemalen. Männliche Symbole des Lebens, der Unvergänglichkeit, der Jahreszeiten, der Felsen und Bäume, Tiere des Bodens, Wassers und der Luft, und vieles mehr.
Der Schamane war sehr geübt, er konnte auch auf seinem Rücken zeichnen, so weit sein Arm reichte. Dazu leierte er in einem monotonen Singsang Sprüche herunter, rituelle Formeln, die seinen Körper reinigen und den Geist auf das bedeutende Ereignis vorbereiten sollten.
Als er bei sich fertig war, zog er Sandperle aus und bemalte ihren Körper mit den weiblichen Symbolen, ebenso von Gesang begleitet. Sie ließ alles reglos mit sich geschehen, ihr Blick war glasig, die Sinne stumpf. Sie bekam nur am Rande mit, was mit ihr angestellt wurde.
Am Ende musste es zur Vereinigung der männlichen und weiblichen Symbole kommen, doch das wenigstens war nur von kurzer Dauer. Außer einem kurzen, wechselnden Schmerz ging es ohne Eindruck an Sandperle vorüber.
Woran sie sich jedes Mal erinnern konnte, war der abgrundtiefe Ekel, den sie empfand, wenn sie wieder zu sich kam. Ihr Unterbewusstsein konnte sich wohl an alles erinnern, was ihr wacher Verstand in Trägheit an sich vorüberziehen ließ; es trat aber nie in Form von Bildern oder Erinnerung zutage, sondern nur in Form von Ekel.
Aber das bemerkte Kristallträumer niemals, denn er war stets bereits mit den nächsten Vorbereitungen beschäftigt – der Waschung des Körpers, wobei die Zeichnungen wieder entfernt wurden. Dabei musste Sandperle ihm behilflich sein, und manchmal verlangte er noch einen besonderen Dienst, der vermutlich nicht viel mit der Zeremonie zu tun hatte, sondern ihm lediglich Vergnügen bereitete. Und einen Würgereiz in Sandperle auslöste, je mehr die Kräuter herunterbrannten und die betäubende Wirkung des Rauchs nachließ. Aber abgesehen von jenem einzigen reuevollen Augenblick ganz zu Beginn, als sie noch dumm und unschuldig gewesen war, wagte sie es nicht mehr, sich zu widersetzen.
Heute konnte Kristallträumer gar nicht genug bekommen.
Anscheinend erregte ihn die Aussicht auf das höchste aller Rituale, die Zerstörung des Kristalls, dessen Vorbereitung nunmehr begonnen hatte; er verlor sich schon ganz darin. Diese Zeremonie würde seine Macht mehren, ihn mit einem heiligen Feuer erfüllen und in einen hohen Stand versetzen. Seine Prophezeiungen würden an Deutlichkeit gewinnen, und er würde noch tiefer in alle Dinge eindringen. Er wäre dann ein wahrhaft Heiliger Mann, nicht mehr nur Schamane, Mittler der Sphären. Er wäre Teil davon, erleuchtet.
»Dreh dich um«, sagte er.
Sandperle sah ihn erschrocken an, doch als sie den gierigen, fast brutalen Ausdruck in seinen Augen sah, gehorchte sie augenblicklich. Wenigstens konnte sie beim Umdrehen unbemerkt ausspucken und den Mund abwischen, was sonst kaum möglich war.
Sie ging in Positur und wartete zitternd auf seinen Ansturm.
Sie war froh, dass er ihre Tränen aus Schmerz und Demütigung nicht sehen konnte, während er sich in Ekstase verlor und anfing, heilige Formeln zu rufen, um Erleuchtung flehte, sich dabei immer noch mehr hineinsteigerte und zu keinem Ende fand.
Dies war einer jener Tage, die Sandperle am liebsten sofort wieder vergessen würde, die sich jedoch stets tiefer in ihr Gedächtnis brannten als seltene glückliche Momente.
Sonnentau, dachte sie. Ich muss an meine Tochter denken.
Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten, der Schmerz brannte überall. Tagelang würde man die Spuren sehen. So schlimm wie heute war es selten.
Sie flüchtete sich in den Anblick ihrer Tochter, wenn sie in den frühen
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