165 - Am heiligen Berg
Yinjo?«
»Er arbeitet«, sagte der Mönch.
Aruula stutzte mitten in der Bewegung. »Er macht – was?«
»Arbeiten. Wir arbeiten alle für unser Essen.«
»Yinjo ist ein Kind!« Aruula griff nach dem Ledergeschirr ihres Bihänders, erhob sich und schnallte es um.
»Trotzdem hat er Hunger! Und nicht wenig!« Tandra Meeru trat ein paar Schritte zurück, als sich Aruula nach dem Schwert bückte. Hastig sagte er: »Ich möchte dich bitten, deine Waffe hier zu lassen. Sie erschreckt meine Brüder.«
Aruula erwiderte das freundliche Lächeln des Mönchs und sagte: »Mein Schwert geht da hin, wo ich hingehe! Aber ich will deinen Leuten keine Angst machen. Danke für das Nachtlager.«
»Was hast du vor?«, fragte Tandra Meeru verblüfft, als die Barbarin ihre Sachen zusammenraffte und den Bogen schulterte.
»Wonach sieht es aus?« Aruula spürte Ärger in sich aufsteigen. Es war nicht lustig, eine Mahlzeit angeboten zu bekommen und sie gleich wieder zu verlieren. »Ich gehe auf die Jagd. Wenn ich gegessen habe, komme ich zurück und hole den kleinen Bruder ab.«
»Halt! Warte!«, rief Tandra Meeru und vertrat ihr den Weg. Er wirkte verzweifelt, und Aruula dachte, es sei ihretwegen. Sie lächelte, während sie seinem hastig vorgetragenen Versprechen lauschte, er würde mit den anderen Mönchen reden, damit das Schwert bei seiner Besitzerin bleiben konnte.
»Es ist nicht nötig, ein Leben auszulöschen«, schloss Tandra Meeru.
Aruula antwortete nicht. Sie war ans Fenster getreten und hatte etwas entdeckt, das ihr den Atem nahm.
»Bei Wudan!«, sagte sie erschrocken. »Der Mond ist vom Himmel gefallen!«
Unterhalb des Klosterhügels lag ein riesiger See. Das Wasser war schwarz in der lichtlosen frühen Dämmerung.
Am fernen Ufer erhoben sich mächtige Berge, einer neben dem anderen, in endloser Reihe. Hier und da schimmerte ein Hauch von Morgenröte zwischen ihnen durch. Sie alle wirkten grau, selbst jene mit schneebedeckten Gipfeln. Über der Frontreihe aber, die noch ganz von den Nachtschatten verhüllt war, ragte ein leuchtender Vollmond auf. Als wäre er abgestürzt und hätte sich verkeilt.
Tandra Meeru trat neben ihr ans Fenster, legte die Handflächen aneinander und verneigte sich vor dem vermeintlichen Himmelskörper. Dann sagte er: »Das ist Ti'bais heiligster Berg! Wir nennen ihn Kei'lun, das bedeutet Gefallener Mond. Die Mönche von Shi'gana sind seine Hüter.«
»Der brennende Felsen!«, flüsterte Aruula atemlos.
Sie war am Ziel!
Aruula fühlte sich plötzlich so leicht, und so froh. Sie hörte Tandra Meeru erzählen, dass es früher zwei Monde am Himmel gegeben hatte, die das Gute und das Böse im Gleichgewicht hielten. Einer war heruntergefallen, als das Ungeheuer aus den Tiefen des Alls kam und die Erde verwüstete. Seitdem hüteten die Mönche von Shi'gana den heiligen Berg, denn er war das letzte Gute in einer Welt der Dämonen.
Aruula war, als ob eine schwere Last von ihren Schultern gefallen wäre. Das musste er sein, der Fels aus ihrer Vision!
Von hier sah er zwar anders aus, aber das mochte am Blickwinkel liegen.
Die Barbarin ließ kein Auge von dem wundersamen Berg.
Er spiegelte sich in ihren Pupillen, und die wachsende Morgenröte mit ihm. Sie kroch in Zeitlupe hinter dem Berg hoch und brach sich an seinen vereisten Rändern wie ein hauchdünner Strahlenkranz. Bald schon, bald würde sie den Gipfel erreichen! Aruula ballte die Fäuste vor Anspannung.
Jeden Moment würde das rote Morgenlicht den höchsten Punkt überschreiten und sich in flammenden Kaskaden über den heiligen Berg ergießen.
Werde ich das Geheimnis meiner Vision erfahren? Wird die Gottheit zu mir sprechen, die mich hierher geleitet hat? Was wird sie mir sagen?, fragte sich Aruula gespannt.
Dann ging die Sonne auf; freundlich, leuchtend, warm – und es wurde hell.
»Er brennt nicht.« Aruula spürte, wie ihr Magen zu Stein wurde. Sie wandte sich an den Mönch. »Der Berg brennt nicht! Er müsste in Flammen stehen und tut es nicht!«
»Bist du deshalb hier?«, fragte Tandra Meeru lächelnd.
Dann nickte er. »Doch, der Kei'lun flammt. Allerdings nur einmal im Jahr, wenn die Strahlen der Abendsonne genau zwischen den beiden Türmen des Klosters hindurch auf ihn treffen.«
Aruula war so enttäuscht! Sie vermied es, Tandra Meeru anzusehen, und sagte mit gespielter Gleichgültigkeit: »Ich nehme an, dass dieses eine Mal im Winter sein wird.« Sie lachte bitter. »Oder gestern war.«
Die Stimme des Mönches klang
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