1661
hereinkam.
»Erbarmen! Nicht bewegen, Hoheit, nicht bewegen«, ließ sich der Maler sogleich vernehmen. »Sonst seht Ihr am Ende noch aus wie eine dieser grinsenden Leichen des niederländischen Chirurgen Nicolaes Tulp!«
Vaux-le-Vicomte
Dienstag, 10. Mai, sechs Uhr morgens
Der Tag brach langsam an, und ein erster Sonnenstrahl tauchte den Mahagonischreibtisch in Gabriels Zimmer in leuchtendes Rot. Vor den Augen des jungen Mannes tanzten die Buchstaben und Ziffern auf dem verschlüsselten Dokument, das die Formel für die Zusammensetzung des Pflanzensuds enthielt, mit dem allein der Kodex lesbar gemacht werden konnte. »Das Fünfte Evangelium«, flüsterte er wieder und wieder, als könnte er den kryptischen Papieren einen Sinn entlocken, wenn er nur diese Worte heraufbeschwor. Er rieb sich die gereizten Augen. Manchmal glaubte er, das Erscheinen Bertrand Barrêmes im Palais Royal, die Begegnung mit seinem Vater und die wenigen Stunden, die er mit ihm verbracht hatte, nur geträumt zu haben. Allein die tiefe Trauer über dessen Tod bewies ihm auf grausame Weise, dass all das wirklich geschehen war. Das Einzige, was ihn vor der Verzweiflung bewahrte, waren seine Wut und sein Rachedurst. Ein Rachedurst, den d’Orbays und Fouquets Enthüllungen nicht gestillt, sondern nur aufgeschoben hatten.
Er fühlte sich wie zerschlagen und ging ins benachbarte Badezimmer. Die beißende Kälte des Wassers ließ ihn frösteln, als er sein Gesicht damit benetzte. Dennoch wusch er sich Arme und Oberkörper und wollte sich gerade kräftig abtrocknen, als jemand an die Tür klopfte. Schnellschlüpfte Gabriel wieder in sein Hemd, öffnete die Tür und fand sich Isaac Bartet gegenüber. Dieser hielt ihm wortlos einen Brief hin. Überrascht nahm der junge Mann ihn an sich und lächelte erfreut, als er die Schrift auf dem Umschlag erkannte.
»Louise!«, rief er mit halblauter Stimme.
Er beeilte sich, das Wachssiegel zu brechen, und faltete den Brief auseinander. Sein Lächeln erstarrte. Seine Hände krampften sich um das Papier, und auf seinem übermüdeten Gesicht breitete sich eine jähe Blässe aus.
»Ihr seid es, Gabriel?«, fragte François d’Orbay erstaunt und richtete sich in seinem Bett auf. Seine Stimme klang noch sehr verschlafen. »Was hat das zu bedeuten?«
Der junge Mann schien völlig aufgelöst. Er trat an das Bett des Baumeisters, ergriff dessen Hand, und seine Stimme zitterte vor Erregung, als er sprach.
»Eine schreckliche Gefahr, ich muss es Euch sofort erzählen …«
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte d’Orbay. Es überraschte ihn, dass er das Licht des anbrechenden Tages nur zaghaft zwischen den schweren Vorhängen hindurchschimmern sah.
»Es ist noch sehr früh, doch ich konnte nicht warten.«
Als d’Orbay sah, welchen Anblick Gabriel bot – kaum angekleidet, Hemd und Haare in wilder Unordnung, das Gesicht von fehlendem Schlaf gerötet –, sprang die Unruhe auf ihn über. Er schlug die Laken zurück, schwang die Beine aus dem Bett und griff nach seinem Schlafrock. Gabriel lief unterdessen aufgeregt am Fußende des imposanten, von einem Baldachin gekrönten Bettes auf und ab.
»Langsam, mein Freund, beruhigt Euch«, versuchte d’Orbay ihn zu besänftigen. »Sagt mir, was Euch so in Aufruhr versetzt! Ich hoffe, Ihr habt einen guten Grund dafür, dass Ihr mich aus dem Schlaf gerissen habt.«
»Es geht um die Sicherheit von Louise, vielleicht um ihr Leben …«, schnitt ihm Gabriel das Wort ab.
D’Orbay zog die Augenbrauen hoch.
»Ihr sprecht von Mademoiselle de La Vallière?«
Gabriels bestätigendes Nicken vergrößerte seine Unruhe. Auch das noch, dachte er, Nicolas hatte sie ja gewarnt. Das Mädchen spielt mit zu hohem Einsatz. Gabriels fiebriger Blick ließ ihn aufseufzen. Was habe ich dem Himmel getan, dass sämtliche leichtsinnigen jungen Leute, die es im Königreich gibt, sich um mich herum versammeln?, fragte er sich.
»Vor einer Stunde hat sie mir diesen Brief überbringen lassen«, sagte Gabriel und zog aus seinem Hemd das Schreiben, das Bartet ihm gebracht hatte.
D’Orbay ergriff es und überflog es hastig.
»Die Sache ist wirklich ernst. Eure Freundin kann von Glück sagen, dass unsere Spione so tüchtig sind und diesem Brief ein besseres Schicksal beschieden war als den täglichen Berichten, die Bartet an den Oberintendanten schickt. Der beklagt sich in einer Mitteilung, die er mir gestern hat zukommen lassen, dass ihn keinerlei Nachricht erreicht hätte, seit er
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