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Staunenversetzte, war, was man in der Zwischenzeit mit meiner ersten Verschlüsselung gemacht hatte. So etwas habe ich in meinem Leben kein zweites Mal gesehen. Wie soll ich Euch das auf einfache Art erklären?«, fuhr er mit nun wieder wohlgefälliger Miene fort. »Nun, es war kein mathematischer, sondern gewissermaßen ein harmonischer, gar kunstvoller Code. Das heißt, er beruhte nicht, und da bin ich mir sicher, auf mathematischer Logik, sondern vielmehr auf einer subjektiven Wahrnehmung. Dieser Code war
schön,
junger Mann, schön wie eine Kathedrale, nicht so nüchtern wie eine mathematische Gleichung!«
Immer noch sprachlos betrachtete Gabriel die Blätter, die ihm nur wie ein Haufen unverständlicher Zeichen und Ziffern vorkamen. Während er daraufstarrte, trat Barrême hinter ihn. Nur ein paar Schweißtropfen verrieten noch seine vorherige Gereiztheit. In seinen Augen war wieder der Zweifel zu entdecken, welches wohl die wahren Absichten des jungen Schauspielers sein mochten.
»Da ist noch etwas, an das ich mich erinnere: das Aussehen des Mannes, der mir an jenem Abend das zu verschlüsselnde Schriftstück überreichte und mich danach für meine Mühen reichlich entlohnte. Er hatte genau Eure Größe und Eure Haltung, die Haare waren so wie Eure, und seine Gesichtszüge, ja, doch, in meiner Erinnerung sind sie den Euren unheimlich ähnlich …«
Gabriel schrak zusammen, als ihm bewusst wurde, dass der Rechenmeister ihn nun durchdringend anblickte. Schnell stammelte er ein paar Dankesworte, während er die Papiere fieberhaft zusammenraffte, lud den Rechenmeister noch zur Premiere des Stückes ein und verschwand.
Barrême nahm seinen Kneifer ab. Warum erschien ihm auf einmal die Aussicht so fade, sich wieder an die Ausarbeitung des neuen Buchhaltungsverfahrens zu begeben, mit dem ihndie Leute des Kardinals beauftragt hatten? War es die Erinnerung an die Gesichtszüge des Mannes, die ihm, seit er den jungen Schauspieler erblickt hatte, wieder vor Augen schwebten? Er erhob sich, kleidete sich hastig an und verließ seine Wohnung, ohne sich groß die Zeit zu nehmen, die Tür zu verriegeln.
Zwanzig Minuten später hämmerte er gegen das Portal eines Palais in der Rue de la Verrerie. Als sich die Flügeltüren vorsichtig öffneten, stieß er sie aufgeregt auf und stürzte an dem Lakai vorbei in die Vorhalle.
»Ich muss Monsieur d’Orbay sprechen«, rief er, »augenblicklich!«
Schloss von Vincennes
Mittwoch, 9. März, zwei Uhr morgens
Niemand schlief in dieser Nacht, in der der Tod um das Schlafgemach von Frankreichs Erstem Minister schlich. In Erwartung des Kommenden wachten sowohl die Lakaien wie auch die zum Hofstaat des Kardinals zählenden Höflinge, wodurch in dem Schloss eine seltsame Stimmung herrschte. Alle gingen auf Zehenspitzen und sprachen nur mit leiser Stimme. Am frühen Abend des 8. März war Mazarin in Agonie verfallen. Er erkannte niemanden mehr und delirierte mit weit geöffneten Augen, rief auf Italienisch nach seiner Mutter, Ortenisa Rufalini,
sua mamma,
so wie er es wohl in seiner frühesten Kindheit in den Abruzzen getan hatte. Mit Anbruch der Nacht fiel ihm das Atmen zusehends schwerer. In seinem Himmelbett, das viel zu groß für seinen abgemagerten Körper war, umhüllten ihn die blütenweißen Laken, die von seinen alten Kammerdienern stets eifrig gewechselt worden waren, bereits wie ein Leichentuch. Sorgfältig hatte man seine durch die Krankheit stark gelichteten Haare gekämmt und auf seinen Wangen etwas Schminke verrieben, um die durchsichtige Haut zu verbergen. Im Kamin prasselte ein Feuer, das als einzige Lichtquelle das Schlafgemach erhellte, wo der Beichtvater Seiner Eminenz wie auch die Ärzte im Gebet versunken waren. Die Königinmutter hatte bis Mitternacht am Bett des Sterbenden ausgeharrt und sich dann, erschöpft durch die vielenNachtwachen der vergangenen Tage, in ihre Gemächer zurückgezogen, nachdem sie verlangt hatte, dass man sie beim kleinsten Anzeichen, »dass das Schicksal sich schneller als erwartet erfüllt«, benachrichtigte. Im Vorzimmer zum Schlafgemach des Kardinals wachte Colbert in Gesellschaft der beiden Minister Lionne und Le Tellier.
Gegen halb drei begann der Sterbende nach Luft zu ringen. Wenn er einatmete, war in seiner Brust ein pfeifendes Geräusch zu hören. Das Leben entwich dem Körper des Mannes, der nun in die Geschichte Frankreichs einging. Mazarins Leibärzte hatten keine Zeit mehr, Anna von Österreich zu verständigen,
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