1661
Gattin Gefühle zeigen, die er als König von Frankreich verbergen musste. Um gegen seine Erregtheit anzukämpfen, verlangte er barsch nach seinen Kleidern und gab dem Hofmarschall die ersten Befehle.
»Schickt auf der Stelle einen Boten nach Vincennes und lasst meine Ankunft melden. Kutscher und Musketiere sollen sich bereithalten!«
Während die königliche Karrosse eine Stunde später über das Kopfsteinpflaster in Richtung Vincennes rumpelte, dachte Ludwig XIV. über die kommenden Stunden nach und darüber, wie er sein Königreich von nun an zu regieren gedachte.
Die klappernden Hufe schreckten die Musketiere auf, die an diesem Morgen auf der Esplanade von Vincennes Posten standen. Ludwig XIV. hatte es eilig. Eilig, die Königinmutter inseine Arme zu schließen, deren Kummer sicher grenzenlos war, aber auch eilig, allen zu zeigen, wessen er fähig war – wenn der König in seinem tiefsten Inneren auch weniger selbstsicher war, als er vorgab. Als er das Schloss betrat, bemerkte er, dass die Gardisten des Kardinals zum Zeichen der Trauer ihre Waffen umgedreht hielten. Dem König hatten sich in Paris die Marschälle Villeroy, Gramont und Noailles angeschlossen, die nun wenige Meter hinter ihm marschierten. Anna von Österreich erwartete ihn im Vorzimmer zu dem Raum, in dem Mazarins Leichnam aufgebahrt lag.
»Seine Majestät der König!«, rief der Türschließer und riss die Türen auf.
Die Königinmutter saß in einem Sessel vor dem Kamin und wärmte ihre Hände an einer Tasse heißer Schokolade mit Zimt. Am Fenster unterhielt sich Lionne leise mit Le Tellier, Brienne und Colbert. Ehrerbietig verneigten sie sich vor dem König von Frankreich, der zu seiner Mutter eilte, die sich erhoben hatte, um den Begrüßungskuss ihres Sohnes entgegenzunehmen. Ihre Augen waren von Müdigkeit und Tränen gerötet.
»Madame, ich teile Euren Schmerz«, sagte der König und schloss sie in seine Arme. »Ich kann ermessen, wie sehr es meinen Paten diese letzten Tage seines Lebens getröstet haben muss, dass Ihr bei ihm wart.«
»Sire«, entgegnete die Königinmutter mit tränenerstickter Stimme, »Euer Kommen ist uns ein großer Trost. Das Königreich hat seinen treuesten Diener verloren. Ihr solltet wissen, dass sich Seine Eminenz bis zu seinem letzten Atemzug um Eure Majestät gesorgt hat.«
»Ich will ihn sehen«, verlangte da der König plötzlich.
Sein Befehl überraschte alle Anwesenden, war es doch unvorstellbar, dass der König von Frankreich mit dem Tod konfrontiert wurde. Sprachlos starrten sie ihn an. In dem bedrückendenSchweigen wiederholte Ludwig XIV. seinen Befehl.
»Ich will ihn sehen!«
Zögernd öffnete der Türsteher die Verbindungstür zum Sterbezimmer.
Das Zimmer war nur vom flackernden Licht der Kandelaber beleuchtet, die man um das Sterbebett herum aufgestellt hatte. Wie hypnotisiert vom Anblick des leblosen Körpers seines Ersten Ministers blieb Ludwig im Türrahmen stehen. Auf einmal überkam ihn tiefe Trauer, und Tränen begannen ihm über die Wangen zu rollen. In diesen Minuten durchlebte Ludwig noch einmal die bedeutendsten Momente seiner Kindheit an der Seite des Paten, der ihm so vieles beigebracht hatte, hörte noch einmal seine Stimme mit dem so charakteristischen Akzent, wurde sich aber auch des Schweigens bewusst, das ihn von nun an für immer begleiten würde. Darauf bedacht, seinen Schmerz nicht zur Schau zu stellen, gebot Ludwig XIV. mit einer Handbewegung, die Tür zu schließen.
»Meine Herren«, sagte der König in feierlichem Ton zu der Gruppe um Lionne, »es ist eigentlich an der Zeit, die Hände zum Gebet zu falten und des Toten zu gedenken. Ich möchte Monsieur Colbert dennoch bitten, die Staatsminister in meinem Kabinett zu versammeln.«
Michel Le Tellier, der als Erster begriff, dass Ludwig XIV. mit Anna von Österreich einen Augenblick allein sein wollte, verbeugte sich und schob die anderen zur Tür hinaus. Der König trat zu seiner Mutter.
»Madame, es ist mir ein Bedürfnis, Euch in dieser schmerzlichen Stunde die lästigen Staatspflichten zu ersparen. Deshalb habe ich beschlossen, die Sitzung nur mit meinen Ministern abzuhalten.«
Die Königinmutter war von seiner Mitteilung wie vor den Kopf geschlagen. Der König nahm sich jedoch nicht die Zeit,die Reaktion seiner Mutter abzuwarten. Er küsste sie kurz auf die Stirn und rauschte aus dem Zimmer.
Sprachlos starrte sie ihm nach. Dass ihr Sohn sie aus dem Staatsrat ausschließen würde, hätte sie niemals für
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