1661
abhandenkamen. Sie sind von einem jungen Mann gefunden worden, und der Zufall wollte es, dass er Nicolas Fouquet kennenlernte, der sein Beschützer wurde. Der junge Mann kommt aus Amboise, und ich wusste vom ersten Moment an, wer er ist, so frappierend ähnlich sieht er seinem Vater.«
Giacomo war wie vor den Kopf geschlagen. Er lehnte sich zurück und faltete die Hände.
»Ihr habt es sicher erraten«, fuhr d’Orbay fort und erhob sich. »Ja, es ist Andrés Sohn, Gabriel de Pontbriand. Er hat die Dokumente gefunden. Seltsame Ironie der Geschichte, findet Ihr nicht auch?«, sagte er mit verdächtig brüchiger Stimme. »Vor fünfzehn Jahren entrinnt der Vater wie durch ein Wunder dem Tod, verliert dabei aber die Schriftstücke unserer Bruderschaft. Fünfzehn Jahre lang wissen wir nicht, wo sie sich befinden, und nur der Code schützt sie. Und nun macht sichdie Vorsehung, oder wie immer Ihr es nennen wollt, ein Vergnügen daraus, einen zweiten Pontbriand in die Schlangengrube zu stoßen, gerade in dem Moment, da wir kurz vor dem Ziel sind …«
»Können wir sie ihm nicht irgendwie abnehmen, ohne ihn ins Vertrauen zu ziehen?«
»Ich fürchte, das ist nicht so einfach. Der junge Mann war bei Barrême und hat ihn gebeten, die Papiere für ihn zu entschlüsseln. Er hat Andrés Unterschrift darauf erkannt und weiß also, dass dies die einzige Spur ist, die ihn zu seinem Vater führt. Barrême hat wie immer zu viel geredet, war aber wenigstens so klug, mich gleich zu verständigen. Sicherlich könnte man Gabriel zum Schweigen bringen«, sagte er finster, »der Gedanke ist mir schon gekommen, muss ich gestehen. Doch haben wir eigentlich kein Recht dazu.«
»Und Nicolas? Wir dürfen das Wesentliche nicht aus dem Auge verlieren. Was sagt er dazu?«
»Ich habe mit ihm darüber gesprochen«, entgegnete d’Orbay. »Das ist auch der Grund, weshalb Ihr hier seid. Die neuesten Nachrichten nach Mazarins Tod scheinen darauf hinzuweisen, dass der junge König wild entschlossen ist, seinen Müßiggang aufzugeben und allein zu regieren. Er will keinen Ersten Minister mehr. Das ist besorgniserregend. Wir hätten lieber weiterhin einen lenkbaren Monarchen gehabt, wie wir es bei unserem Treffen in Rom noch erhofften, das wäre für uns wesentlich einfacher gewesen. Reden wir nicht lange drumherum: Ich bin der Meinung, dass wir in Anbetracht dieser Ereignisse unseren Plan vorantreiben müssen. Ich habe Befehl gegeben, dass die Arbeiten in Vaux beschleunigt werden. Das kann ich ohne Schwierigkeiten begründen. Wenn wir schnell handeln, können wir uns zunutze machen, dass der König seine Vorsätze noch nicht in die Praxis umgesetzt hat. Und wir werden umso sicherer Erfolg haben, weil uns dieHoffnung beseelt, dass wir über den jungen Pontbriand den Schlüssel zurückbekommen, mit dem wir das Manuskript entschlüsseln können, das in Kürze aus Rom eintreffen wird. Dieser zusätzliche Trumpf wird Nicolas beflügeln, er wird den König überzeugen, daran besteht kein Zweifel.« Er setzte sich wieder seinem Besucher gegenüber und suchte dessen Blick. »Wir
müssen
in diesem Sommer handeln. Sobald wir das Manuskript entschlüsselt haben. Was bedeutet, dass wir gewisse Risiken auf uns nehmen müssen. Wie denkt Ihr darüber?«
»Das müsst Ihr entscheiden, François«, antwortete Giacomo del Sarto leise. »Versucht zunächst, den Code wiederzubekommen. Reist dazu sofort nach London. Und den Rest besprecht mit Nicolas. Ihr habt freie Hand.«
»Das ist es, was ich von Euch zu hören hoffte«, sagte d’Orbay erleichtert. »Ich muss Euch gestehen, dass ich schon die Postpferde bis Calais bestellt habe. Ich breche unverzüglich auf. Das läuft zwar unseren Sicherheitsmaßnahmen zuwider, aber es steht einfach zu viel auf dem Spiel.«
Der Großmeister lächelte zustimmend. Er ergriff d’Orbays Hände und drückte sie fest. Dann erhob er sich und nahm seinen Mantel.
»Ich bleibe noch zwei Tage hier. Ich nehme mir die Zeit für eine Disputation an der Sorbonne und einen privaten Termin. So kann sich niemand über meinen Parisaufenthalt wundern.«
Sechs Stunden später, das Licht des anbrechenden Tages spiegelte sich noch nicht auf dem vom nächtlichen Regen glänzenden Pflaster, stieg François d’Orbay die Treppenstufen hinab, bereit zum Aufbruch. Als er durch das Vestibül kam, dachte er kurz an seine beiden schlafenden Kinder nebenan und beschleunigte dann seine Schritte.
Jagdpavillon von Versailles
Sonntag, 13. März,
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