1661
zurechtfinden. Einen Augenblicklang blieb er am Kopfende der beiden Betten stehen, dann kniete er sich hin und zog den Kindern die Bettdecken bis zum Kinn hoch. Wie viele Male habe ich sie so schlafen gesehen?, dachte er betrübt. Ein Jahr in Rom, ein weiteres Jahr in London, dazu noch die ständigen Reisen: Die Jahre waren so schnell vergangen, und die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, wog schwer. Immer hatte er kämpfen und auf der Hut sein müssen, immer den Verrat fürchten und auf das Schlimmste gefasst sein müssen. Gott, wie verzehrend diese Passion doch war! Wie oft war er während der letzten zehn Jahre dem Gefängnis oder dem Tod entkommen? Wie oft hatte er wahnwitzige Risiken auf sich genommen, ohne sich jemals den Seinen zu offenbaren, ohne dass seine Frau wusste, wohin seine Gedanken wanderten, wenn er lange Zeit schweigend dasaß? Und ich habe noch Glück gehabt, dachte er, während es ihm kalt über den Rücken lief und er kurz die Augen zusammenkniff, um die Erinnerung an seine toten Freunde zu verscheuchen. Seine beiden Kinder hatten im Schlaf die kleinen Fäuste geballt. Vorsichtig nahm er seinem Sohn das hölzerne Pferd weg, welches er an sich geschmiegt hatte, legte es auf das Tischchen neben dem Bett und strich dann seiner kleinen Tochter zärtlich die Locken aus der Stirn. Die gedämpfte Stimme seines Kammerdieners, der im Türrahmen stand, riss ihn aus seinen Gedanken. Widerstrebend richtete er sich auf.
»Monsieur … Monsieur, Ihr Besuch ist gekommen«, flüsterte er.
Der Architekt seufzte, wandte sich um und folgte seinem Lakaien. Auf der Schwelle schaute er noch einmal zurück. Dann zog er die Tür zu, sorgsam darauf bedacht, dass das Schloss nicht quietschte.
Giacomo Del Sarto saß ganz nahe am Kamin und streckte seine Hände zu den Flammen. Der flackernde Feuerschein huschte über sein Gesicht und betonte seinen bleichen Teint. Von seinem schwarzen Mantel, den er über dem nebenstehenden Stuhl ausgebreitet hatte, tropfte das Wasser auf die ockerfarbenen Steinfliesen. Verdrossen deutete er darauf, als d’Orbay eintrat.
»Ich bin nur aus der Kutsche gestiegen und die paar Schritte bis zu Eurer Haustür gegangen, und schon bin ich völlig vom Regen durchnässt. Wir scheinen dazu verdammt zu sein, uns immer an stürmischen Tagen zu treffen.«
Er erhob sich und umarmte d’Orbay herzlich. Dann nahmen beide schweigend Platz, während der Diener den Raum verließ.
»Nun«, fuhr der Großmeister fort, nachdem die Tür geschlossen war, »was ist passiert? Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns nach unserer letzten Versammlung so schnell wiedersehen würden. Ich bin sofort aus Rom aufgebrochen, als ich Eure Nachricht erhalten habe. Ihr habt mich zutiefst beunruhigt. Und Ihr wisst, ich mag keine überstürzten Aktionen.«
D’Orbay seufzte, während er das Feuer schürte.
»Ich hatte keine andere Wahl. Ich wollte Eure Meinung hören und hatte leider nicht die Zeit, alle unsere Brüder einzuberufen. Ich denke übrigens nicht, dass dies zur Zeit vernünftig wäre.«
Giacomo del Sarto zog die Augenbrauen hoch und beugte sich vor.
»So schlimm steht es?«
»Leider ja. In den letzten Tagen ist allerhand Merkwürdiges passiert. Es vermischen sich verschiedene Dinge … Doch zunächst solltet Ihr wissen, dass unsere verloren gegangenen Schriftstücke wiederaufgetaucht sind.«
Del Sarto schreckte hoch, ja er schrie fast: »Was? Wo?«
»Es ist eine wirklich seltsame Geschichte. Wie es scheint, war unsere große Sorge der letzten Jahre begründet: Die Dokumente, die unter den Euch bekannten Umständen während der Flucht unseres Bruders André verloren gingen, befanden sich tatsächlich in Mazarins Besitz, der sie jedoch nicht zu entschlüsseln vermochte. Uns ist zum Glück das krankhafte Misstrauen des Italieners zugutegekommen. Er hat niemandem etwas davon erzählt, weil er von der Angst besessen war, andere könnten das Geheimnis schneller aufdecken als er selbst. Kurz, der Schuft hat sein Leben ausgehaucht, ohne …«
»Aber die Dokumente«, unterbrach ihn Del Sarto ungeduldig, »wer hat sie Mazarin entwendet? Und wo sind sie jetzt?«
»Das ist ja gerade das Seltsame daran. Ein paar religiöse Fanatiker haben in Mazarins Palais Feuer gelegt, um einen Einbruch zu vertuschen. Ich weiß zwar nicht, was sie genau gesucht haben, bin aber davon überzeugt, dass die Übeltäter unwissentlich unsere Dokumente mitgehen ließen, die ihnen dann später auf der Flucht
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