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1667 - Die Früchte des Wissens

Titel: 1667 - Die Früchte des Wissens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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durch die Schnur. Noch hielt die Kraft in Cahlies Beinen, bis ein Baum sie am Schädel erwischen würde. Sie würde loslassen, das Bewußtsein verlieren und dann in den Tod hinüberdämmern. Aber ist es nicht besser so? Ohne den Kampf, der das Leiden verlängert? Ein weiteres Mal hatten sie Glück. Der Sturz endete unversehens vor einer langen Reihe von Felsen, die tief im Boden steckten.
    Niisu und Cahlie klammerten sich fest. Mit ganzer Kraft trotzten sie dem Zug und schleppten sich auf die andere Seite der Felsenreihe, wo der Sturm gebrochen wurde.
    Hier war der Boden weich. Kein Schlamm war es, sondern moosbewachsener Untergrund, in dem die Wurzelschicht nur kurz unter die Oberfläche reichte. Dort, im Schatten, hatte nie ein Baum gestanden. „Grab dich ein!" schrie er. „Gleich kommt das Eis!"
    Niisu suchte in den Fetzen, die von seiner Kleidung übrig waren, nach Werkzeug. Er fand nichts. Also grub er mit bloßen Händen und voller Todesangst. Es hat keinen Sinn.
    Das Eis durchschlägt die dünne Erdschicht. Wir verbluten in unserem Grab.
    Niisu hörte nicht auf die Stimme in seinem Kopf. Brockenweise flog die Erde hoch.
    Zwanzig Zentimeter tief, das reichte nicht. Aber schon waren die nächsten Eispartikel heran, die ihm blutige Wunden schlugen. Es waren die ersten Vorläufer, nicht der Höhepunkt.
    Er zwang sich, nicht jetzt schon in die Erde zu kriechen, sondern wühlte, bis die letzte Kraft verbraucht war.
    Ein halber Meter war hoffentlich genug. „Es ist gut so! Cahlie! Cahlie!"
    Gemeinsam mit seiner Sterngefährtin legte er sich in die Grube - neben sie und auf den Bauch, damit die Chance größer war, das Gesicht zu schützen. Mit beiden Armen schaufelten sie Erde über sich. Sie bedeckten zunächst ihre Beine, dann Unter- und Oberkörper. Zuletzt wühlten sie sich mit den Köpfen regelrecht in den Sand.
    Es waren nur ein paar Zentimeter, die sie jetzt bedeckten. Doch hinzu kam der Windschatten der Felsengruppe.
    Der Schatten ist nichts wert. Es war die Frucht, die ihm das sagte. Und so, wie jeder Nomade der Frucht vertraute, schwand auch Niisus Hoffnung auf Überleben.
    Der Sturm war da.
    In seiner ganzen Gewalt brach das Wetter aus den Höhen des Gebirges Rok über sie herein. Niisu hörte es trotz der Krumenschicht. Er spürte den erzitternden Boden. Und er wünschte, er hätte auch Cahlie spüren können, doch ihre Arme und Beine lagen weiter links in der Erde begraben. So blieb nur die Nabelschnur, die in seinem Nacken mündete, kurz unterhalb des Schädelknochens, und über die er das Leben seiner Sternpartnerin spürte. Entsetzlich kalt wurde es. Etwas prasselte auf die Erde nieder, durchtränkte den Boden mit Nässe und gefror, kaum daß es eingedrungen war. Niisu bekam keine Luft mehr. Die ersten Eispartikel schlugen mit der Wucht von kleinen Pfeilen durch. Er spürte Treffer in seiner gespannten, kalten Haut. Die Schmerzen waren unerträglich. Niisu wollte schreien, doch sein Atem reichte nicht. Er konnte nur daliegen und warten, bis die Haut zerfetzt war. Hätte er mit dem Gesicht nach oben gelegen, das Eis hätte seine Lider perforiert und die Augen ausgestochen.
    Und ab einem bestimmten Punkt fühlte Niisu keine Schmerzen mehr.
    Er schaltete der Reihe nach sämtliche Empfindungen aus. Seine Arme und Beine existierten nicht mehr, ebensowenig die Nabelschnur und das Hämmern in seinem Kopf. Eine scheinbar unendliche Zeitspanne verstrich, in der er weder dachte noch empfand. Nur der Lärm, der seinen Schädel mit Pein erfüllte... Und als auch dies verstummte, hatte Niisu die Schwelle zwischen Tod und Leben erreicht.
    Was es am Ende war, das ihn das Leben wählen ließ, wußte er nicht. Vielleicht dieses entsetzliche Gefühl aus seinem Nacken, das plötzlich den ganzen Körper erfüllte.
    Tatsächlich, der Lärm war verstummt. Niisu kämpfte sich zurück an die Oberfläche seines Bewußtseins. Er spürte, daß er aufgehört hatte zu bluten, daß das Gehör langsam wieder zu arbeiten begann. Es stürmte nicht mehr. Er wußte, daß der Sturm vorbei war, und lebte trotzdem noch. Mit den Kräften kehrte aber auch der Schmerz zurück. In einer instinktiven Reaktion zog sich jeder Muskel seines Körpers zusammen. Er wühlte die gelockerte Erde zur Seite, bis er endlich Luft bekam. „Cahlie!"
    Tageslicht blendete seine Augen, auch wenn es nur wenig war, was die Wolkenschicht durchdrang.
    Niisu schaufelte mit gewaltigen Anstrengungen Erde zur Seite. Er hatte das Gefühl, jeder Muskelstrang im

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