1667 - Die Früchte des Wissens
Körper wollte zerreißen. Doch er dachte nicht daran, sofort aufzugeben.
Seine Haut blutete. Ein Geschmier aus Dreck und Körpersäften bedeckte ihn von oben bis unten, als sich der Nomade aus dem Grab erhob. Er kam auf die Knie, robbte zur Seite und grub dort, wo seine Sterngefährtin lag. Die Nabelschnur war völlig taub. Er spürte nicht länger das Pulsieren ihres Blutes. Hätte Niisu noch schreien können, er hätte es getan. Doch die Kräfte, die er hatte, brauchte er für seine Arme.
Sekunden später legte er den verschrumpelten Leib seiner Frau bloß. Als er ihren winzigen Kopf hob, spürte er keinen Atem. Der Haarschopf war eine einzige blutige Wunde. Ihr Rücken ähnelte mehr einer Kraterlandschaft als der schwarzen Haut einer Trepecco-Nomadin. „Cahlie..."
Cahlie! Sterngefährtin! Ich bin dir so nahe, wie ich es niemals sein konnte.
Sie war tot.
Mit ihr war sein Kind gestorben, weil der Sturm so plötzlich über sie gekommen war.
Und weil sie zuwenig Intelligenz besessen hatten, jemand anderen auf die Suche nach Steinmaterial zu schicken. Oder das Brehem war schuld. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte.
Niisu faßte die Nabelschnur in seinem Nacken und riß sie aus, bevor der fehlende Fluß sein Blut vergiften konnte. Es war purer Instinkt. Wozu das noch? Er fand nicht einmal den Antrieb, sich die Nackenwunde zuzudrücken, und sank im Schatten der Felsen nieder, wo er war. Mit geschlossenen Augen wartete er auf den Tod
3.
Das Gebirge Rok Aber Niisu starb nicht.
Die Sterne sind weiblich, so sagte eine alte Legende unter den Nomaden, die man ihm erzählt hatte, als er gerade ein Kind war. Niisu hatte das nie verstanden. Für ihn waren es einfach Lichter. Er brauchte sie, um sich nachts zu orientieren und um zu bestimmen, wann es Morgen wurde. Manchmal, wenn er eine Frucht gegessen hatte, verrieten ihm die Lichter, in welche Richtung er sich wenden mußte. Dann wanderte Niisu geradeaus - bis ans Ziel, wo eine andere Frucht ihm sagte, was zu tun war. So gesehen dachte er mit Hochachtung an die Sterne. Und mit derselben Hochachtung begegnete ein Nomade seiner Frau. Ihr überlegener Verdauungsapparat, ihre scharfen Augen, dazu der scharfe Verstand - all das faszinierte ihn.
Und als er über die Nabelschnur mit Cahlie verbunden gewesen war, hatte ihm das auch die Sterne näher gebracht. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Nomaden ihre Frauen Sterngefährtinnen nannten. Oder? Niisu hatte nie jemanden getroffen, der sich an die Vergangenheit erinnerte. Es lohnte nicht, darüber nachzudenken.
In ihm pulsierte jetzt furchtbarer Schmerz. Aus der Halswunde sickerte in kurzen Schüben Blut. Doch irgendwann versiegte es, und schmutzige Kruste verklebte seinen Nacken bis zwischen die Schulterblätter. Er spürte wieder Hunger und Durst, trotz der überwältigenden Mattigkeit.
Irgendwann erhob sich Niisu.
Vollständig klar und violett war der Himmel, die Wolkenfelder waren mit dem Sturm längst abgezogen. Das Brüllen eines Raubtiers erklang in kurzer Entfernung. Es war das Brehem. Er konnte es nicht besiegen, das wußte Niisu wohl, doch er konnte zumindest Cahlies Leiche vor dem Zugriff des Räubers schützen. Sie lag noch immer auf dem Bauch, wie sie gestorben war. Ihr Blut wurde langsam schwarz, und es war gut, daß er das Gesicht mit den gebrochenen Augen nicht sehen mußte. Niisu scharrte mit vorsichtigen Bewegungen Erde über sie. Am Ende suchte er kleine Steine zusammen und streute sie über das zerwühlte Grab. „Das ist genug ...", murmelte er.
Seine Überlebenschancen standen schlecht.
Auf dem Rückweg zur Mulde suchte er nach Werkzeug und Kleidung. Das meiste fand sich in der Nähe, auf dem Boden oder in Büschen verfangen. Der Nahrungs- und der Werkzeugbeutel, das Messer und im Dreck die Feuersteine. Allmählich erwachte auch das Leben wieder. Winzige Kriecher, die tief in der Erde überlebt hatten, produzierten schnarrende Geräusche. Ringsum sahen die Bäume und Büsche aus, als habe sie eine Horde von Riesen verwüstet... Kaum ein Blatt, das heil geblieben war, und die Borke war an manchen Stellen fingertief aufgerissen. Es roch nach Rindensaft. Die Moose und Farne waren zu mehr als drei Vierteln zerstört.
Niisu schleppte sich mit lahmen Schritten vorwärts. Die Mulde erreichte er kurz darauf: Der Schild aus Steinziegeln war unversehrt, Geräusche jedoch gab es keine. Hinter der Öffnung gähnte ein schwarzer Schlund. Spuren führten weg von der Mulde ins
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