1667 - Gefangene der Pharaonen
die Flasche wieder zu den anderen gestellt hatte.
Jetzt musste sie erst mal wieder normal werden. Sich beruhigen und dann darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Auf jeden Fall musste sie sich zusammenreißen, denn niemand sollte merken, was mit ihr los war. Auch Susan, die Garderobiere und zugleich Maskenbildnerin nicht, die bald erscheinen würde. Wieder schaute sie in den Spiegel - und zuckte auf dem Stuhl sitzend zurück. Es war unmöglich, was sie dort sah..
Und doch eine Tatsache.
Sie sah im Spiegel nicht nur ihr Gesicht. Es war zwar da, aber umgeben von zahlreichen Geisterfratzen…
***
Cleo Sharid traf der nächste Schock. Allerdings nicht so stark wie beim Betreten des Restaurants, denn diese Gestalten kannte sie. Die hatte sie schon öfter gesehen. Die Ibis Köpfe, die Katzenschädel, der Löwenkopf, der auf einem Frauenkörper saß. Sie alle hatten sich in der Spiegelfläche versammelt, was eigentlich nicht sein konnte und trotzdem der Fall war. Sie hatten sich sogar vermehrt und bildeten so etwas wie eine Gasse, die in den Hintergrund führte.
Geräusche waren zu hören. Doch die wurden von Cleo verursacht. Noch immer hatte sich ihr Atem nicht beruhigt. Sie hörte sich keuchen und schaffte es nicht, den Kopf zu drehen.
Und dann hörte sie wieder die Stimmen. Es war etwas, das sie kannte, aber nicht unbedingt haben wollte. Die Stimmen sprachen schnell und flüsternd auf sie ein, doch es war unmöglich für Cleo, etwas zu verstehen.
Sie konnte nur von einem Durcheinander sprechen, von einer Kakofonie aus unterschiedlich hohen und tiefen Tönen, die, je länger sie andauerte, zu einer Qual wurde. Obwohl Cleo keinen Beweis dafür hatte, war sie sicher, dass es die Stimmen der Gestalten waren, die sich im Spiegel abzeichneten. Worte oder kurze Sätze wurden ihr nicht mitgeteilt, aber dieses Durcheinander sah sie schon als eine Warnung an. Rühren konnte sich Cleo nicht. Sie hatte das Gefühl, immer tiefer in einen Strudel gerissen zu werden, der sie und alles andere in der Umgebung verschlang. Aus dem Spiegel hervor starrten sie die fremden Gesichter an. Die Mutationen von Tier und Mensch wollten etwas von ihr, aber sie konnte nicht sagen, was das war. Hinter ihr stieß jemand hart die Tür auf.
Cleo schrak zusammen. Sie dachte an das Bild im Spiegel, das jetzt auch von anderen gesehen werden konnte und das von ihr erklärt werden musste. Da sie in den Spiegel schaute, sah sie zwei Dinge. Die Tür im Hintergrund und die Gestalten im Spiegel. Die allerdings waren urplötzlich Verschwunden. Dafür blieb das Bild des Mannes, der die Garderobe betrat.
Es war Echem, der Hohepriester!
***
Abermals wurde Cleo ihrer Gefühle nicht Herr. Sie wusste nicht, ob sie sich über das Erscheinen des Mannes freuen sollte oder nicht. Sie war von Natur aus eine Frohnatur. Sie gab anderen Menschen stets Kredit. Sie sah immer das Positive in ihnen, aber es gab auch Ausnahmen.
Dazu zählte dieser Mann!
Nicht nur im Musical war er ihr Feind, sondern auch in der Realität. Wobei sie den Begriff Feind nicht benutzen wollte. Da passte eher der Begriff unsympathisch, denn zwischen den beiden gab es keine Gemeinsamkeiten. Sie waren Kollegen, und das blieben sie auch. Privat wollte die junge Frau nichts mit Echem zu tun haben.
Auch ohne seine Verwandlung in den Hohepriester machte er einen düsteren Eindruck. Er war größer als die meisten Menschen, dazu recht hager, und in seinem Gesicht fielen die sehr dunklen und buschigen Augenbrauen auf, die an Balken erinnerten. Hagere Wangen, ein schmaler Mund und ein scharfer Blick.
Echem trug bereits sein Bühnenkostüm. Ein langes Gewand, bestickt mit goldenen Perlen, die wie zwei Bänder an der Vorder- und Rückseite entlang liefen. Auf dem Stoff malten sich bestimmte Zeichen ab, die dem Hohepriester Kraft geben sollten und natürlich Macht. So jedenfalls bekamen es die Zuschauer präsentiert. Echem blieb vor der Tür stehen, eine Hand noch auf die Klinke gelegt. Er starrte Cleo an und fragte: »Was ist los? Hast du Probleme?«
Jetzt musste sie lügen. »Nein, warum sollte ich?«
Er ging auf seinen Platz zu und hob die Schultern. »Ich hatte zumindest den Eindruck.«
»Dann hast du dich eben geirrt.«
»Okay, das habe ich akzeptiert.« Er stellte sich den Stuhl zurecht und nahm seinen Platz ein.
Auch Cleo blieb sitzen. Dabei wäre sie am liebsten aufgestanden und aus der Garderobe geflohen. Leider musste sie sitzen bleiben und auf die Maskenbildnerin warten, die sie
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