1668 - Wolfsnacht
Aufprall, dann war es vorbei. Der Schrecken kehrte nicht mehr zurück, aber sie vernahm die Stimme der unbekannten Frau.
»Los jetzt! Weg! Verschwinde! Ich will dich nicht mehr hier sehen! Du weißt, wohin du laufen musst!«
Der Werwolf gab eine Antwort. Und die hörte sich an wie ein Klagelaut. Und dann war nichts mehr zu hören. Bis auf eine ferne Musik, die von der Feier stammte.
Helen Winter stand noch immer starr. Bei ihr war alles wie eingefroren. Selbst ihre Gedanken hingen irgendwo fest. Sie starrte ins Leere und ihre Augen waren weit geöffnet, ohne dass sie etwas sah.
Wann sie sich wieder hatte bewegen können, wusste sie selbst nicht. Irgendwann atmete sie tief durch.
Erste Gedanken huschten durch ihren Kopf. Ich lebe noch! Ja, ich lebe noch. Ich habe diesen Schrecken überstanden. Ich bin nicht verletzt. Nicht mal einen Kratzer habe ich abbekommen.
Plötzlich erwachte die Neugier in ihr, und sie rannte so schnell es ging zum Fenster. Niemand lauerte mehr unter ihm oder in der Nähe. Ihr Blick war frei. Sie schaute in den dunklen Garten, in dem es durch den Mondschein nicht stockfinster war. Sie hätte eine Bewegung sehen müssen, aber da war nichts mehr zu erkennen und auch nichts zu hören.
Plötzlich wurden ihre Knie weich. Sie musste sich an der Fensterbank abstützen, um nicht zu fallen. Der Schwindel packte sie, und dann war sie froh, dass ihr Bett in der Nähe stand und sie sich darauf fallen lassen konnte.
Und doch drehte sich das Zimmer vor ihren Augen. Sie presste die Hände gegen das Gesicht und wartete, bis sie sich wieder erholt hatte.
Die letzten Ereignisse wiederholten sich permanent in ihrer Erinnerung. Zweimal war es zu einer Begegnung zwischen ihr und dem Werwolf gekommen. Beide Male hatte sie überlebt. Und jetzt fragte sie sich, ob sie einen dritten Kontakt so unbeschadet überstehen würde. Daran glaubte sie nicht, und sie war froh, dass sie sich vorgenommen hatte, die Polizei zu verständigen. Sie musste nur ernst genug klingen, dass man ihr auch glaubte.
Ihre Eltern waren noch nicht da. Und darüber war sie froh. Es wäre fatal gewesen, wenn auch sie in diesen Horror hineingeraten wären. Sie musste sie von den Ereignissen fernhalten.
Helen Winter glaubte nicht daran, dass es vorbei war. Sie konnte sich nicht in die Lage der Bestie hineinversetzen, doch so leicht gab eine Gestalt wie diese nicht auf. Die würde es bestimmt noch mal probieren wollen.
Dann wollte sie nicht ohne Schutz sein.
In der Nähe wurde noch immer gefeiert. Die Menschen waren fröhlich, sie ahnten nichts. Aber Helen dachte schon einen Schritt weiter.
Das hier konnte durchaus so etwas wie ein Anfang sein. Ein erster Versuch, nicht mehr. Und sie wagte kaum, an die nächsten Versuche zu denken, die sicherlich nicht so harmlos ablaufen würden…
***
Es war mal wieder eine Nacht gewesen, in der ich kaum ein Auge geschlossen hatte. Ich konnte mich gedanklich einfach nicht von Jane Collins lösen und eine innere Unruhe hielt mich wach, weil ich immer damit rechnete, einen Anruf aus dem Krankenhaus zu erhalten, der durchaus negativ sein konnte. Das trat zum Glück nicht ein. Ich fiel dann auch in einen Schlaf, aber er war mehr als leicht. Zur normalen Zeit quälte ich mich aus dem Bett und war froh, mich unter die Dusche stellen zu können. Danach war ich etwas besser in Form. Das Leben ging weiter. Der Tag würde ablaufen wie immer, aber meine Gedanken würden ständig bei Jane Collins sein, und ich hatte mir vorgenommen, ihr einen weiteren Besuch abzustatten. Allerdings nicht am Nachmittag oder am Abend. Ich wollte sie noch vor dem Dienstantritt besuchen. So hoffte ich, meine Unruhe loszuwerden.
Zum Yard fuhr ich immer mit Suko. Als ich Shao und ihm mein Vorhaben erklärte, hatten beide Verständnis.
»Grüß sie von uns«, sagte Shao zum Abschied.
»Werde ich tun.«
Suko brauchte mich nicht an der Klinik vorbeifahren. Ich nahm mir ein Taxi, blieb während der Fahrt stumm und nur mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Da man mich in der Klinik bereits kannte, ging ich davon aus, dass ich mit meinem Besuch keine Probleme bekam. Ich sagte nur an der Anmeldung Bescheid und zeigte zudem meinen Ausweis.
Dann ging ich wieder hoch und lauschte dabei meinem Herzschlag, der sich schon ein wenig gesteigert hatte. In der Station lief mir ein junger Arzt über den Weg, der seinen Dienst erst vor Kurzem angetreten hatte.
Er funkelte mich ziemlich wütend an. Ich musste ihm erst klarmachen, wer ich war.
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