1670 - Der Psychonauten-Gott
endgültig vorbei war. Auch Harry betrat den Balkon. Er hatte sein Jackett abgelegt und den Knoten der Krawatte gelockert. Als er neben seine Partnerin trat, drehte sie den Kopf und schaute ihn an.
»Ist das nicht herrlich? Diese Stille. Einfach nicht zu glauben und trotzdem wahr.«
»Ja.« Harry Stahl atmete tief ein. Auch ihm tat es gut, den Job für zwei Tage los zu sein. Es lag nichts an, und das konnte er nicht von jedem Wochenende des Jahres behaupten. Er arbeitete für die Regierung, zu der auch der Geheimdienst gehörte. Harry wurde dann eingesetzt, wenn es Fälle gab, für die man keine logische oder normale Erklärung finden konnte. Da befand er sich in einer ähnlichen Lage wie sein Freund John Sinclair in London. Nur wurde dieser anders akzeptiert als Harry Stahl. Man ließ ihn zwar in Ruhe, war aber skeptisch, was seine Profession anging.
»Möchtest du noch etwas essen?«
Harry löste seinen Blick von den dunklen Hügelwellen und von den Lichtern im Tal.
»Großen Hunger habe ich nicht. Gegen eine Kleinigkeit habe ich aber nichts einzuwenden.«
»Brot und Käse?«
Harry lächelte, als er fragte: »Dazu einen Rotwein?«
»Auch das.«
»Du hast mich überredet.«
»Gut, ich decke eben den Tisch.«
»Danke. Lass dir Zeit.«
»Keine Sorge.« Sie strich Harry über das ergraute Haar und verließ den Balkon.
Es herrschten zwar noch nicht die richtigen Temperaturen, um einen langen Abend dort verbringen zu können, aber Harry fühlte sich trotzdem wohl. Er genoss es, wenn der Wind sein Gesicht streichelte und den frühlingshaften Duft aus dem Tal zu ihm auf den Balkon brachte. Ein Fall lag nicht an, darüber war er froh, und so würde er ein wunderbares Wochenende mit seiner Partnerin verbringen. Die Landschaft des Rheingaus genießen, spazieren gehen, hier und da einen Schluck Wein trinken, das war schon etwas, was Leib und Seele gut tat.
Der Montag lag so weit weg, und es sah auch nicht aus, als würde es etwas geben, was das Wochenende stören konnte.
Einige Flaschen Wein lagerten immer in der Küche. Dafür musste niemand in den Keller, und Harry wollte den Balkon verlassen, da erschien Dagmar wieder. Das Licht aus dem Wohnzimmer reichte aus, um die beiden mit Rotwein gefüllten Gläser erkennen zu lassen, die sie in ihren Händen hielt.
»Einen Schluck vorweg?«
Harry verdrehte die Augen. »Ich glaube, dass du Gedanken lesen kannst.«
»Zum Glück nicht.« Sie reichte Harry ein Glas. Beide stießen an und lauschten dem Klang nach.
Harry freute sich. »Ein herrliches Geräusch. Ich könnte es immer und immer hören.«
»Ich auch.«
Beide genossen den Roten, der aus der Pfalz stammte und sehr kräftig war. Genau das Richtige zum Käse. Noch etwa zwei Minuten lang genossen sie den Blick, dann zog Dagmar ihre Schultern hoch und schlug vor, in die Wohnung zu gehen. Es kam Harry entgegen, denn auch ihm wurde allmählich kalt. Der Weg führte sie in die Küche, wo der Tisch gedeckt war. Auf einem Holzbrett lagen fünf verschiedene Käsesorten. Die drei weichen perfekt gereift, sodass sie schon beinahe ausliefen. Brot hatte Dagmar auch abgeschnitten, und so ließen sie es sich schmecken. Hin und wieder tranken sie auch einen Schluck Mineralwasser und redeten über Gott und die Welt.
»Weißt du, was mich auch freut, Dagmar?«
»Nein. Aber du wirst es mir gleich sagen.«
»Genau, es freut mich, dass die letzten Wochen einigermaßen ruhig verlaufen sind.«
»Und das bedeutet?« Sie lächelte ihn an.
»Dass ich nichts dagegen habe, wenn es so bleibt. Auch wenn ich dann einen Bürojob habe.«
Dagmar hob beide Hände. »Beschwöre es nicht. Denk an den letzten Fall im Bayerischen Wald. Da hat es uns auch erwischt. Wir dachten an nichts Böses, nur an den Winterurlaub, und dann kam uns dieser tschechische Bildhauer in die Quere, was alles andere als ein Spaß war.«
Harrys Miene verschloss sich. »Ja, das war knapp für dich. Deshalb sage ich immer, man soll den Augenblick genießen und nicht darüber nachdenken, was kommen wird. Das Schicksal schlägt oft genug Kapriolen.«
Davon konnten die beiden wirklich ein Lied singen. Sie hatten so einiges durchgemacht, und manchmal war es hart an der Grenze zwischen Leben und Tod gewesen. Harry hob sein Glas. »Auf was trinken wir?«
»Einfach nur auf uns.«
»Okay.«
Sie stießen wieder an. Beide hatten längst bemerkt, dass der Stress des Tages von ihnen abgefallen war. Sie waren locker, sie waren gelöst, und dabei hatte ihnen auch der Rotwein
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