1690 - Die Schwelle zum Jenseits
Menschen sprechen. Das steigerte ihre Hoffnung auf ein Überleben und sie schaffte sogar ein Lächeln.
Der Mann strich durch sein dunkles Haar. Die Farbe war für Marcia nicht genau zu erkennen, dafür fragte sie sich, wie es weiterging und was der Fremde von ihr wollte.
Und sie dachte wieder an die Stimme, die über das Telefon mit ihr Kontakt aufgenommen hatte. Jetzt fragte sie sich, ob dieser Mann der Anrufer gewesen war.
»Bist du es?«, flüsterte sie.
»Was meinst du?«
»Der den Kontakt zu mir gesucht und mich beeinflusst hat. Ich wollte an der Schwelle zum Jenseits stehen und einen Blick hineinwerfen …«
»Das hast du doch …«
Marcia glaubte nicht daran. »Nein, nein, das habe ich nicht. Ich kann es nicht glauben. Ich habe nicht die Geister der Verstorbenen gesehen. Das ist alles nicht wahr gewesen …«
»Und was ist mit der blumenübersäten Wiese?«
»Sie verschwand. Sie faulte, sie stank, und alles auf ihr wurde zu Asche.«
Er nickte. »Da hast du dich nicht getäuscht. Ich wollte dir ein Beispiel geben, dass alles vergänglich ist. Es gibt das Licht, es gibt den Schatten, und ich fühle mich im Schatten wohler, wenn du verstehen kannst, was ich damit meine.«
»Nicht wirklich …«
Er winkte ab. »Ist auch nicht schlimm. Du wirst es noch lernen, Marcia, ganz bestimmt.«
Sie fand sich überhaupt nicht mehr zurecht. »Was – was soll ich denn lernen?«
»Die Liebe«, flüsterte er.
Nach dieser Antwort fühlte sich Marcia auf den Arm genommen. Wie konnte diese Person nur von Liebe sprechen, die derartige Ansichten vertrat? Das wollte ihr nicht in den Kopf.
»Welche Liebe denn?«, hauchte sie.
»Die Liebe zum Bösen!«
Marcia hätte am liebsten geschrien. Die Antwort hatte so echt geklungen, dass sie voll und ganz daran glaubte. Dieser Mensch machte ihr nichts vor. Er liebte keine Menschen, er liebte das Böse, das so viel Schreckliches beinhaltete.
»Weißt du jetzt Bescheid?«
»Nein – ich weiß nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich bin einfach nur neugierig gewesen, mehr nicht. Das musst du mir glauben.«
»Ja, das glaube ich dir sogar. Ich habe dir ja den Weg bereitet, und zwar nur dir.«
Marcia war nicht mehr fähig, spontan zu antworten, ihr fiel nur eine Frage ein.
»Wer bist du?«
Der Mann lächelte.
Die Gefangene ließ nicht locker. »Hast du denn keinen Namen? Bist du ein Namenloser aus der Jenseitshölle?«
»Doch, ich habe einen Namen.«
»Dann sag ihn mir doch!«, drängte sie und glaubte plötzlich, dass dieser Name etwas Außergewöhnliches war, sonst hätte der Typ ihn schon längst genannt.
Die Antwort gab er mit leiser, aber auch etwas lauernder Stimme. »Ich heiße Matthias.«
»Was?«
»Du hast es gehört. Matthias. Aber du kannst auch Teufel zu mir sagen, wenn dir das lieber ist …«
***
Marcia Gitti hatte es die Sprache und den Atem verschlagen. Man hatte ihr eine doppelzüngige Antwort gegeben und sie dachte darüber nach, welche der beiden richtig war.
Wahrscheinlich stimmten sie alle beide.
»Hast du mich verstanden, Marcia?«
Sie hätte gern genickt. Das war wegen ihrer Lage nicht möglich. Dafür flüsterte sie: »Ja, schon.«
»Und glaubst du mir?«
Welch eine Frage! Marcia wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie entschloss sich für einen Kompromiss.
»Es ist so schwer, dies zu glauben. Das habe ich noch nie zuvor gehört. Ich bin …«
Er ließ sie nicht ausreden. »Du wirst es noch begreifen, kleine Marcia.«
»Aber du hast den Teufel erwähnt.«
»Na und?«
»So sieht doch der Teufel nicht aus.«
Matthias hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. So wurde daraus mehr ein Kichern. Er ergriff wieder das Wort. »Bist du so naiv und glaubst noch an das, was dir idiotische Menschen gesagt und eingetrichtert haben? Besteht für dich das Bild des Teufels aus einer bocksfüßigen Gestalt mit zwei Hörnern, die aus der Stirn wachsen? Ich denke schon, und ich will dir auch sagen, dass sich der Teufel hin und wieder so zeigt, damit die Menschen zufrieden sind. In Wirklichkeit aber ist die Hölle ganz anders, denn sie wird von gefallenen Engeln bewohnt, und der Engel, der über allem steht, ist mein Herr. Sonst keiner.«
Marcia glaubte ihm. Aber sie wollte mehr wissen. »Und – und – wer ist dieser Engel? Hat er auch einen Namen?«
Matthias nickte bedeutungsvoll. »Ja, den hat er. Es ist der schönste Name, den man sich vorstellen kann. In der Hölle als auch woanders.« Er holte nicht nur tief Atem, er richtete
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