1693 - Letzte Zuflucht: Hölle
sagte ich: »Egal, der Plan wird nicht geändert. Wir setzen uns in den Wagen und fahren die Adressen der Reihe nach ab.«
»Und ich bin dabei«, erklärte Benson …
***
Es war eine lange und auch schlimme Nacht für Wiebke Hiller gewesen. Das hatte nicht nur an ihr gelegen, sondern auch an Lucas. Mal hatte der Junge geschlafen, dann war er wieder erwacht, einige Male hatte er geschrien, was für ein kleines Lebewesen in seinem Alter durchaus normal war, aber Wiebke war dieses Schreien auf die Nerven gegangen. Es hatte irgendwie anders geklungen. Wütend, aggressiv, als würde etwas in dem kleiner Körper stecken, das einfach nur raus musste.
Glücklicherweise hatte der Pfarrer noch für ihr leibliches Wohl gesorgt. Er hatte ihnen Wasser da gelassen und auch etwas zu Essen. Eine Schachtel mit Keksen. So hatten sie nicht zu hungern und auch nicht zu dursten brauchen.
Aus den Keksen hatte Wiebke einen Brei gemacht und damit den kleinen Lucas gefüttert. Mehr hatte sie für das Kind wirklich nicht tun können.
Die lange Zeit des Wartens begann. Stunden der Nacht, die sich dehnten wie Kaugummi. Wiebke wollte auch nicht schlafen. Sie musste immer daran denken, dass es Personen gab, die ihr und dem Jungen auf der Spur waren.
Ja, um Lucas ging es!
Aber was war er überhaupt? Was steckte in diesem kleinen Kind? Diese so harmlose Person, die vielleicht gar nicht so harmlos war. In dieser kleinen Person steckte etwas Bösartiges. Nicht nur das Schreien deutete darauf hin, auch das manchmal wilde Gehabe, das nicht immer auftrat, nur in gewissen Etappen. Da schrie er nicht nur, sondern schüttelte auch den Kopf, und seine Haut erhielt dabei eine fast bläuliche Färbung.
Als würde ein Teufel in ihm stecken. Und so ähnlich musste auch der Pfarrer gedacht haben, der noch einmal in das kleine Haus gekommen war, um nach seinen Gästen zu schauen. Er hatte nach seinem Eintreten rasch ein Kreuzzeichen geschlagen und war sofort danach wieder verschwunden, auch weil Wiebke keine besonderen Wünsche an ihn hatte.
Sie wartete darauf, dass es draußen wieder hell wurde. Die Dunkelheit gefiel ihr nicht.
In dem Haus selbst gab es zum Glück Licht, das sie auch brennen ließ. Sie wollte auf keinen Fall im Dunkeln hocken. Die alte Schaukelleuchte hing unter der Decke und war so mit Fliegendreck verklebt, dass ein Teil der Helligkeit gefiltert wurde. Es machte ihr nichts aus. Für Wiebke zählte nur, dass sie ihre Ruhe hatte.
Den kleinen Lucas hatte sie in einen Sessel gelegt. Sie selbst hatte ihren Platz auf einem alten Sofa gefunden. Die Zeit verging. Mal war sie wach, dann schlief sie wieder ein, und wenn der Kleine schrie, gab sie ihm etwas Brei.
Zwei Flaschen Wasser hatte ihnen der Pfarrer überlassen. Dafür war Wiebke ihm dankbar. Sie glaubte allerdings nicht, dass er ihr eine große Hilfe sein würde.
Natürlich stand für sie fest, dass etwas geschehen musste, wenn sich draußen der Tag ankündigte. Sie konnte sich nicht hinter diesen Mauern verstecken, besonders nicht mit diesem Kind.
Zeit genug, sich einen Plan auszudenken, hatte sie ja gehabt. Das Kind ging sie im Prinzip nichts an, doch sie wollte es auch keinem anderen Menschen überlassen und hatte sich deshalb vorgenommen, es zu den Eltern zu bringen, die es sicherlich schon vermissten. Das wäre jedenfalls normal gewesen.
Und sie hatte auch vor, den Ort zu verlassen. Hier geschah etwas, das ihr nicht gefiel. Es waren Kräfte am Werk, die ihr Angst einjagten, und sie wollte auch nicht in deren Gewalt geraten. Mit Schrecken dachte sie immer wieder an die Szene auf dem Bahnsteig, als plötzlich die Skelette erschienen waren, die sie sich ganz gewiss nicht eingebildet hatte.
Sie schlief ein. Irgendwann. Auf die Uhr hatte sie nicht gesehen.
Es gab zwei Fenster im Zimmer. Dahinter würde sich der neue Tag zuerst zeigen, und als sie nach dem letzten Einschlafen erwachte, da sah sie den hellen Schimmer hinter dem Glas. Noch war er mehr als graues Zeichen anzusehen. Sie schlief wieder ein, auch weil sie von Lucas nichts hörte.
Beim nächsten Erwachen war es heller geworden. Jetzt noch das Licht brennen zu lassen wäre reinste Verschwendung gewesen, und so stand sie auf und schaltete die Lampe aus.
Lucas schlief. Neben dem Sessel blieb sie stehen und schaute sich den Jungen an. Er sah so harmlos und friedlich aus wie jedes andere Kind in seinem Alter auch. Sie dachte daran, dass sie Windeln hätte wechseln müssen, aber darum sollten sich die Eltern kümmern,
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