1693 - Letzte Zuflucht: Hölle
wenn sie ihren kleinen Sohn wieder in die Arme schlossen.
Wiebke ließ ihn schlafen. Sie trat an eines der beiden Fenster und schaute hinaus. Der Blick fiel auf eine Rasenfläche, auf der Bäume wuchsen. Apfelbäume, die reife Früchte trugen. Einige Äpfel hatten sich bereits gelöst und lagen im Gras. Sie sah auch den schmalen Weg, der zur Kirche führte.
Genau dort sah sie auch die Gestalt, die sich dem Haus näherte.
Es war der Pfarrer, der sicherlich wissen wollte, wie es jetzt mit ihr und dem Baby weiterging.
Wiebke wusste es selbst nicht genau. Ihr Plan stand zwar fest, aber mit der Zeiteinteilung hatte sie noch Probleme. Sie verließ ihren Platz und ging in den kleinen Flur, der dort endete, wo sich die Haustür befand. Da hing auch ein alter Spiegel an der Wand. Wiebke blieb stehen und warf einen Blick hinein.
Beinahe hätte sie sich vor sich selbst erschreckt. Sie sah nicht gut aus. Ihre ansonsten so frische Haut wirkte grau. Schatten lagen unter ihren Augen. Das dunkelblonde Haar verlangte nach einer Wäsche, und der Blick ihrer graublauen Augen zeigte nicht eben einen besonders großen Optimismus.
Sie hörte den Pfarrer vor der Tür, weil er einige Male hustete. Wiebke wollte nicht warten, bis er selbst die Tür öffnete. Sie zog sie vor ihm auf und sah, dass er zusammenzuckte, weil er sich leicht erschreckt hatte.
»Oh, Sie sind schon wach?«
»Ist das ein Wunder?«
Der Pfarrer hob die schmalen Schultern. Er war jemand, der die fünfzig schon hinter sich hatte. Einen Teil seines Haares hatte er verloren, so wuchs am Hinterkopf nur noch ein Kranz.
»Wie geht es dem Kind?«
Wiebke öffnete die Tür fast bis zum Anschlag. »Kommen Sie rein und schauen Sie sich den Jungen selbst an.«
Es sah nur einen Moment so aus, als wollte er wieder den Rückweg antreten, überlegte es sich dann anders und drückte sich an Wiebke vorbei.
»Ist der Junge wach?«
»Bisher schlief er noch.«
»Das ist gut.« Der Pfarrer ging ein paar Schritte ins Haus hinein.
»Warum sagen Sie das?«
»Ich bin mir selbst nicht sicher, und Sie dürfen mich auch nicht für einen Menschen halten, der Kinder nicht mag, aber als ich den Jungen zum ersten Mal sah, hat mich schon ein seltsames Gefühl erfasst.«
»Wie meinen Sie das?«
Der Geistliche blieb in der offenen Tür zum Zimmer stehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Er hatte seine Arme vor den Körper genommen und die Hände gefaltet.
»Ich kann mir nicht helfen, aber von diesem Kind geht etwas aus, das mir Probleme bereitet.«
»Und welche?«
»Das ist schwer zu sagen«, flüsterte er. »Der Junge hat etwas an oder in sich, das mich abstößt. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Und einem Mann der Kirche wie mich stößt eigentlich nur das Böse ab. Können Sie das verstehen?«
Wiebke nickte. »Ja, ja, das kann ich. Geht mir irgendwie ähnlich. Auch für mich ist Lucas kein normales Kind, auch wenn er nicht anders aussieht.«
»Haben Sie denn schon eine Lösung gefunden?«
»Nein, das nicht, ich weiß nur, dass sein Schreien immer sehr aggressiv klang. Als wäre er wütend. Als würde etwas in ihm stecken, das er loswerden muss.«
»Und was könnte das sein?«
Wiebke hob die Schultern. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Es ist mir im Endeffekt auch egal. Ich will Lucas nur loswerden und ihn so schnell wie möglich seinen Eltern übergeben.«
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Dann wollen Sie zu ihnen?«
Wiebke Hiller nickte. »Lange herumtrödeln möchte ich nicht, und ich will Ihnen ehrlich sagen, dass ich auch keine Lust habe, noch länger hier in Melrose zu bleiben, was Sie bestimmt verstehen können.«
»Und ob ich das verstehe. Ich an Ihrer Stelle hätte nicht anders gehandelt.« Der Pfarrer räusperte sich und sagte: »Dennoch möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Ich dachte, dass Sie vielleicht etwas essen möchten. Deshalb habe ich ein Frühstück vorbereitet.«
Wiebke lächelte nicht nur, sie strahlte. »Das ist genau das, was mich wieder zurück in die Normalität bringt …«
***
Der Pfarrer, der Gordon Green hieß, hatte tatsächlich den Frühstückstisch gedeckt und auch schon Kaffee gekocht. Tee trank er nicht, und auch Wiebke entschied sich für den Kaffee.
Lucas hatten sie mitgenommen. Er war nicht mal erwacht und schlief auch jetzt weiter. Diesmal hatte er seinen Platz auf einer Klappliege gefunden. Es gab Obst, aber auch Eier, und Wiebke spürte, wie die Lebensgeister allmählich in sie zurückkehrten und die
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