1693 - Letzte Zuflucht: Hölle
Augenhöhe befanden. Und weil sie dort zu sehen waren, gab es für mich nur eine Erklärung.
Die beiden roten Punkte mussten zwei Augen sein. Genauer gesagt, Glutaugen.
Wozu sie gehörten, sah ich nicht. Nur diese unförmige kompakte Masse, als gehörte sie zu einem Urwelttier, das Millionen von Jahren überlebt hatte.
Ich wusste, dass die Hölle so einige Überraschungen bereithielt. So stellte ich mich auf einen Angriff ein, drehte mich aber sicherheitshalber noch mal um – und war froh, dies getan zu haben.
Eine weitere Gestalt war da.
Sie hatte schon dicht hinter mir gestanden, jetzt starrte ich sie an.
Nein, ich glaubte nicht, einen normalen Menschen vor mir zu sehen, auch wenn sein Körper diese Form aufwies. Das war etwas anderes. Das Gesicht bestand nur aus einem Umriss, der allerdings gefüllt war. Aus ihm hervor starrten mich Augen an. Rote Punkte mit einem gelblichen Schimmer darin. Der übrige Körper war mehr eine unförmige Masse, und die Geräusche, die mir entgegen klangen, hörten sich wie das zischende Atmen eines Tauchers unter Wasser an.
Asmodis trat selten allein auf. Die Zahl seiner höllischen Diener war nur zu schätzen. Sie konnten aussehen wie Menschen, aber auch wie Wesen, die nicht einzuschätzen waren.
Das Kreuz auf der Brust schickte seine Warnung. Es war klar, dass die Gestalt angreifen würde, und da war es besser, wenn ich ihr zuvorkam. Meine Hand legte sich schon auf den Griff meiner Beretta, da veränderte sich die Lage. Plötzlich hörte ich die kratzige Stimme. Sie stammte von der Gestalt, die vor mir stand.
»Wir werden uns die Kinder holen. Eines nach dem anderen. Sie sind reif, sie werden vorbereitet für ihr Leben, das dem Teufel geweiht wurde. Und niemand wird uns daran hindern. Sechs Kinder haben wir schon, und es werden mehr werden, immer mehr …«
Die Stimme brach ab. Dafür hörte ich etwas anderes. Ein kaltes und böses Lachen. Es war das letzte Geräusch, ehe sich der Nebel wie ein dichter Vorhang zwischen uns schob und ich nicht mal mehr die Skelette sah.
Meine Beretta konnte ich stecken lassen. Sicherheitshalber drehte ich mich um, weil ich nach dem zweiten Angreifer Ausschau halten wollte, aber er war nicht zu sehen, und auch der Nebel zog sich zurück.
Zusammen mit ihm verschwanden auch die Skelette.
Und dann gab es nichts mehr.
Nur den alten verlassenen Bahnsteig mit dem Gebäude in meinem Rücken. Ich hätte mich gern den beiden schwarzen Wesen gestellt und die geweihten Silberkugeln in ihre roten Augen geschossen. Doch sie waren verschwunden. Ihre Drohung hatte ich nicht vergessen. Sie waren da, um sich noch mehr Kinder zu holen, denn sechs reichten ihnen offenbar nicht.
Ich hatte hier keinen Kampf gewonnen, ich hatte Asmodis nicht in die Schranken weisen können, aber mir war klar, dass es der anderen Seite hier im Ort auf keinen Fall gelingen durfte, weitere Kinder in ihre Gewalt zu bringen, denn einen Nachschub für die Hölle durfte es nicht geben.
Dass diese Aufgabe nicht einfach war, lag auf der Hand. Ich befand mich in einer fremden Umgebung, ich kannte hier keine Menschen, aber ich hatte eine Helferin an meiner Seite.
Jetzt musste Mary Kendrick mit eingreifen. Ich hoffte, dass sie im Ort so angesehen war, um auch akzeptiert zu werden. Dass man ihr Antworten gab, wenn sie fragte.
Ich suchte noch mal den Bahnsteig ab, aber da war nichts mehr. Selbst der Nebel hatte sich zurückgezogen, und so machte ich mich auf den Weg zurück zu Mary Kendrick und dem alten Benson. Er wusste bestimmt noch einiges. Nur würde man seine Aussagen wohl aus ihm herauskitzeln müssen. Einer, der anderen Menschen gegenüber immer misstrauisch gewesen war, würde das so schnell nicht zur Seite legen …
***
»Du kannst nichts daran ändern, Mary …«
»Aber da oben – ich – ich irre mich nicht. Das sieht aus wie Nebel, und das ist auch Nebel.«
»Stimmt.« Benson nickte. Er saß noch immer auf der Bank und schaute gar nicht hin.
»Aber wieso zeigt sich der Nebel? Das ist doch nicht normal! Ich glaube auch nicht, dass es ein Naturphänomen ist.«
»Das stimmt.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Sagst du das nur so oder meinst du das wirklich?«
»Warum sollte ich dir etwas vormachen? Hier geschieht etwas, das schlimm ist. Ich weiß das. Ich weiß es schon lange.«
»Wieso?«
Benson sah ihren Blick auf sich gerichtet. Er lächelte, bevor er sagte: »So was spürt man. Zumindest spüre ich das, verstehst du? Ich schaue nicht nur nach vorn, sondern
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