1712 - Verflucht bis in den Tod
wieder normal hin. Sie starrte auf ihr Smartphone und wartete darauf, dass es sich meldete. Unser Parkplatz am Rand der Straße war gut gewählt. So störten wir keinen anderen Wagen, wenn er uns passierte.
Noch immer krochen die Minuten dahin. Aus dem Fond hörten wir nichts. Der Mond-Mönch war die Ruhe selbst. Als ich den Kopf drehte und ihm einen Blick zuwarf, da schaute ich in sein ausdrucksloses Gesicht. Nicht das geringste Gefühl spiegelte sich darin wider.
Und dann war es so weit. Die Melodie war nicht laut und wir hatten uns auch auf das Telefonat eingestellt, dennoch zuckten wir beide zusammen.
»Ja?«, sagte Karina knapp.
»Ich bin es mal wieder.«
»Das höre ich.«
»Und? Wie sieht es aus?«
Karina Grischin atmete zunächst tief durch. Dann gab sie die Antwort. »Es ist alles vorbereitet. Du kannst Wladimir abholen. Man wird euch keine Steine in den Weg legen.«
»Oh, das ist gut. Du hast wohl große Angst um deinen Partner, wie?«
»Ja, weil ich ein Mensch mit Gefühlen bin und kein Monster wie du, Chandra.«
Sie reagierte so, wie es zu erwarten war, denn sie lachte scharf. »Das interessiert mich nicht. Es zählt nur der Erfolg.«
»Ich weiß. Und wie geht es weiter, wenn ihr Wladimir aus der Klinik geholt habt?«
»Das wird eine Überraschung werden. Wie schön, dass es Telefone gibt. Ich rufe dich wieder an. Viel Spaß bis dahin …«
Karina sah aus, als wollte sie vor Wut wieder anfangen zu schreien. Sie beherrschte sich jedoch und sackte in sich zusammen. Ihre Stimme klang fast weinerlich, als sie sagte: »Sie haben alles in der Hand, alles. Und wir haben das Nachsehen.«
Ich gab keine Antwort. Was hätte ich auch sagen sollen? Nur, dass sie recht hatte, denn wir waren die Fliegen, die sich im Netz der Spinne verfangen hatten …
***
Gala war an diesem Morgen nicht gekommen, um Wladimir zu waschen und einzukleiden. Eine andere Schwester hatte das übernommen. Eine sehr schweigsame Kirgisin, deren Körper auch zu einem Mann gepasst hätte. Aber sie war gut in ihrem Fach, und als Wladimir aus dem Bad geschoben wurde, war er fertig angezogen.
Draußen hatte der Tag die Nacht abgelöst. Der Schnee war jetzt besser zu erkennen, doch er hatte seine helle Farbe verloren und einen Grauschimmer angenommen.
Auf einem kleinen Tisch stand Wladimirs Frühstück. Er hatte es sich so gewünscht. Tee, dazu Eier und Speck. Als Nachtisch Obst. Essen konnte er allein. Er bedankte sich bei der Helferin, die das Zimmer verließ. Dann rollte er an den Tisch heran und stocherte mit der Gabel im Essen herum.
Eigentlich freute er sich jeden Morgen auf dieses Frühstück. Es gehörte zu den wenigen erfreulichen Momenten, die er erlebte. Heute war das nicht so, denn er wusste genau, dass der Tag nicht gut für ihn laufen würde.
Das Essen schmeckte ihm nicht, auch den Tee empfand er als zu dünn. Er rollte vom Tisch weg und holte sein Handy aus der Seitentasche der Jacke. Darunter trug er einen Pullover, dann eine Cordhose und normale Schuhe mit dicken Sohlen. So wurde er selten angezogen und ging davon aus, dass man bereits Bescheid wusste, was mit ihm geschehen sollte.
Chandra war nicht dumm. Sie würde alles in die Wege geleitet haben. Sie hatte sicherlich auch mit Karina gesprochen, und jetzt würde er abwarten müssen.
Er hoffte, dass seine Partnerin anrief, was leider nicht der Fall war. Er selbst wollte nicht telefonieren, aus Angst, einen falschen Zeitpunkt zu erwischen.
Warten. Sich in das Schicksal ergeben.
In der Nacht herrschte in der Klinik die große Ruhe. Das hatte sich jetzt geändert. Auf dem Flur jenseits der Tür hörte er Schritte. Auch mal eine Stimme oder Musikfetzen. Das alles war ihm bekannt. Er bekam es tagtäglich mit. Nur nicht an den Wochenenden. Da holte ihn Karina in die gemeinsame Wohnung.
Wieder erklangen die Echos der Schritte. Aber sie glitten nicht vorbei, sondern verstummten vor seiner Tür. Wladimir drehte den Rollstuhl so, dass er zur Tür schauen konnte, die aufgedrückt wurde.
Dr. Melina Nastajew betrat den Raum. Sie war eine hoch gewachsene Frau mit hellblonden Haaren und einer etwas knochigen Figur. Auffallend war auch die Brille mit dem dunklen Gestell. Durch die Gläser schauten zwei scharfe Augen.
»So, ich hörte, dass Sie Bescheid wissen, Wladimir. Man wird Sie jetzt abholen.«
»Haben Sie mit Karina Grischin gesprochen?«
»Ich hatte die Ehre.«
»Dann ist es okay.«
Die Ärztin trat zur Seite, um drei Menschen in weißen Kitteln Platz zu
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