1713 - Carlotta und die Vogelmenschen
Schnee war kalt. Johnny merkte es nicht. Er erreichte den quer liegenden Baumstamm und kam dort erst mal zur Ruhe.
Die Vogelmenschen bewegten sich auch weiterhin. Nur hatte sich jetzt etwas verändert. Sie blieben nicht mehr still. Unter ihren Masken drang ein ungewöhnlicher Singsang hervor, mit dem Johnny nichts anfangen konnte.
Der Singsang schien sie sogar anzutreiben, denn sie bewegten sich schneller. Dabei stampften sie sogar mit den Füßen auf und traten den Schnee flach.
Johnny wurde mutiger. Er schob seinen Oberkörper hoch und erreichte den Baumstamm, über den er nach vorn schauen konnte. Dabei behinderten ihn einige schräg wachsende Äste. Er musste sie zur Seite schieben – und schrak zusammen, als zwei Zweige mit einem leisen Knacken brachen. Zum Glück hörte nur Johnny das Geräusch.
Sein Blick war jetzt relativ frei. Zwischen den Körpern der Vogelmenschen waren kleine Lücken entstanden, die es ihm erlaubten, einen Blick in die Kreismitte zu werfen.
Dort lag etwas!
Johnny hielt den Atem an. Dieses Etwas war ein Mensch. Ein Mann, der die Kleidung eines Bahnangestellten trug. Es war also derjenige, den sich die großen Vögel geholt hatten. Johnny erinnerte sich sehr gut daran, da er und Carlotta Zeugen gewesen waren.
Die Maskierten bewegten sich auch weiterhin. Aus den offenen Mäulern der Masken drangen die dumpfen Laute des Singsangs, und Johnny konnte sich gut vorstellen, dass sie einem bestimmten Ritual folgten, das dem Mann galt, der im Schnee lag und den Mittelpunkt des Kreises bildete.
Weiterhin zuckten die blakenden Fackelflammen in die Höhe. Die Männer hielten sie nicht mehr in den Händen. Sie hatten sie in den Boden gerammt, um die Hände frei zu haben.
Der Tanz wurde fortgeführt. Hätten die Männer nicht die Masken getragen, dann hätte Johnny ihn als Folklore eingestuft. So aber steckte etwas anderes dahinter. Das war möglicherweise sogar ein Opferritual, das dem Mann auf dem Boden galt.
Beim ersten Ansehen hatte er ausgesehen wie tot. Das traf nicht zu, denn Johnny sah, dass sich der Mann bewegte. Er hob hin und wieder sogar unter großen Anstrengungen den Kopf, weil er mitbekommen wollte, was um ihn herum geschah.
Gefesselt war er nicht. Aber auch so hatte er nicht die Spur einer Chance zur Flucht. Es ging ihm nur ziemlich schlecht.
Johnny war jetzt so nahe an ihn herangekommen, dass er sein Stöhnen hörte, das ab und zu den Singsang übertönte.
Was der Mann da von sich gab, waren Schmerzenslaute. Johnny konnte sich vorstellen, dass der Mann gefoltert worden war.
Noch hatte man ihn nicht entdeckt. Er drückte sich selbst die Daumen, dass es so blieb. An eine Befreiung des Mannes war nicht zu denken. Zu groß war die Übermacht.
Jetzt war eigentlich der Zeitpunkt gekommen, an dem er Hilfe hätte holen müssen, doch das war ebenfalls so gut wie unmöglich. Er hätte sich zusammen mit Carlotta zurückziehen müssen, um die Polizei in Dundee zu alarmieren.
Das würde Zeit kosten. Außerdem wusste er nicht, ob man ihnen glauben würde. Wenn er jetzt ein Fazit zog, musste er schon zugeben, dass er sich zu weit vorgewagt hatte.
Carlotta saß im Baum. Johnny war sich sicher, dass auch sie mitbekam, was sich hier abspielte. Aber auch sie konnte sich nicht zeigen, denn sie wäre ebenso in die Falle gelaufen.
Schlagartig hörte der Singsang auf!
Davon wurde auch Johnny überrascht, der zunächst ruhig da lag und den Atem anhielt. Die Stille kam ihm unheimlich vor, aber sie blieb nicht lange, denn sie wurde von den lang gezogenen Stöhn- und Schmerzenslauten des Mannes in der Kreismitte unterbrochen.
Und dann tat der Mann etwas, was Johnny überraschte. Er winkelte die Arme an und stemmte sich auf seinen Ellbogen hoch. Die Fackelflammen gaben genügend Licht, um alles genau erkennen zu können, und Johnny sah, wie der Mann seinen Kopf drehte und dann genau in seine Richtung schaute.
Er sah das Gesicht.
Schatten und rotgelbe Lichtreflexe huschten darüber hinweg. Das Gesicht hatte eigentlich nichts Normales mehr an sich, man hätte es auch als eine archaische Maske einstufen können, aber eines war doch deutlich sichtbar.
Dem Mann fehlten die Augen. Und Johnny musste davon ausgehen, dass sie ihm ausgestochen worden waren …
***
Er wusste plötzlich nicht mehr, was er noch denken sollte. Diese Entdeckung war einfach furchtbar, und Johnny Conolly war innerhalb von Sekunden mit der ganzen Grausamkeit der anderen Seite konfrontiert worden.
Wie unter Zwang starrte
Weitere Kostenlose Bücher