1713 - Carlotta und die Vogelmenschen
er auf das verunstaltete Gesicht des Mannes, der den Mittelpunkt der Prozession bildete.
Warum hatten diese Hundesöhne das getan? Oder hatten sie sich etwa zurückgehalten und es den Monstervögeln überlassen? Das wusste Johnny nicht. Letztendlich spielte es auch keine Rolle. Es zählte allein die Tatsache, dass dieser arme Mensch unter wahnsinnigen Schmerzen leiden musste.
Johnny wusste, dass er in der Zwickmühle steckte. Er hatte keine Lösung. Er hätte dem Mann so gern geholfen, wusste aber nicht, wie er es anstellen sollte. Ihm stand die Übermacht von zehn dieser unheimlichen Gestalten gegenüber.
Zurückziehen wollte er sich auch nicht. Dann wäre er sich vorgekommen, als hätte er einen Sterbenden im Stich gelassen. Also bleiben und zuschauen, was weiterhin geschah.
Der Blinde saß noch immer. Um ihn herum war der Schnee zum großen Teil geschmolzen, was auch an der Wärme des Fackellichts lag. Jetzt hob er in einer hilflosen Bewegung beide Schultern, öffnete den Mund und stellte eine Frage, die einem Schrei der Verzweiflung glich.
»Warum? Warum habt ihr mir mein Augenlicht genommen? Was habe ich euch getan?«
Johnny war von dieser Frage so fasziniert, dass seine anderen Gedanken unwichtig wurden. Er wartete gespannt auf eine Antwort.
Es gab einen Sprecher in der Gruppe. Sein normaler Kopf wurde von dem eines Adlers verdeckt. Dabei lag der Mund frei, sodass seine Worte gut zu verstehen waren.
»Du hast den Boden entweiht. Du hast dich in den Dienst der Masse gestellt. Du hast die Natur geschändet und den großen Geist, der darüber Wache hält, gereizt.«
»Was habe ich denn getan?«, schrie er in den Wald hinein. »Was werft ihr mir vor?«
»Du hast dich nicht auf unsere Seite gestellt.«
»Das konnte ich nicht!«
»Wir haben dir die Chance gegeben. Wir wollen nicht, dass sich das Gelände um die Bahntrasse herum verändert. Es reicht aus, dass sie die Natur zerstört. Aber dass die Gleise ausgebaut werden sollen, das können wir nicht akzeptieren.«
»Das habe ich nicht beschlossen!«, rief er jammernd.
»Wir wissen es. Aber wir hatten dich ausgesucht, um Gegenmaßnahmen einzuleiten.«
»Das konnte ich nicht. Ich – ich – kann doch nicht Anschläge auf den Zug verüben, mit dem ich fahre. Ich kann keine Schienen sprengen und Bomben legen. Das bringe ich nicht fertig. Ich bin kein Terrorist. Das hättet ihr selbst machen müssen, aber dazu seid ihr zu feige gewesen!«, schrie er in die Runde.
»Das waren wir nicht. Wir haben es nicht getan, weil man uns als Aktivisten sofort in Verdacht gehabt hätte und wir im Hintergrund bleiben wollten. Bei dir hätte niemand Verdacht geschöpft. Aber du hast dich nicht auf unsere Seite gestellt, und deshalb wirst du dein Leben verlieren.«
Johnny Conolly bekam allmählich die Klarheit, die er haben wollte. Nur brachte ihn die nicht weiter. Nach wie vor lag er in seiner Deckung und musste passiv bleiben.
»Und warum soll ich sterben? Ich habe euch nichts getan. Ich bin einfach nur …« Er wusste nicht mehr weiter, senkte den Kopf und schluchzte.
Er erhielt trotzdem eine Antwort. »Wir haben dir schon zu viel gesagt, Edwin. Deshalb können wir dich nicht am Leben lassen. Aber du kannst beruhigt sein, wir werden uns schon noch einen anderen Helfer holen. Das verspreche ich dir.«
»Nein, nein! Das will ich nicht. Ich will leben, obwohl ich nicht mehr sehen kann …«
»Das bestimmst nicht du, sondern derjenige, der hier herrscht und in dessen Auftrag wir handeln. In diesem heiligen Wald wohnt der Naturgeist, der sich als großer Wächter bezeichnet. Schon öfter hat er hier eingreifen müssen, und jetzt ist es wieder so weit. Hier darf es zu keiner Veränderung kommen.«
»Aber dafür kann ich nichts. Ich bin viel zu unbedeutend. Nicht mehr als ein Sandkorn am Strand …«
»Ein Anfang muss gemacht werden, das haben wir Mandragoro versprochen.«
Auch Johnny hatte den Namen gehört. Er also mal wieder. Der Umwelt-Dämon, der sich an den Menschen rächte, die Raubbau mit der Natur betrieben. Dabei achtete er nicht auf Ländergrenzen. Er konnte überall auf der Welt erscheinen, aber auch seine Macht war begrenzt. Die ganz großen Umweltsünden hatte er nicht stoppen können. Er konzentrierte sich immer nur auf Teilbereiche.
Das wusste Johnny von seinem Vater und auch von John Sinclair. Beide hatten ein relativ gutes Verhältnis zu ihm. Jedenfalls waren sie keine Todfeinde.
Johnny wusste aber nicht, wie sich der Dämon ihm gegenüber
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