172 - Der Sturm
Schädel!
Aruula erschrak. »Also das ist der Grund, weshalb die Fischer in ihrem Dorf geblieben sind!«
»Ja.« Yngve nickte und zog sich ächzend aus dem Pilotensitz. »Wer immer da im Mangrovenwald haust, ist kein freundlicher Gastgeber!«
»Glaubst du, dass es Menschenfresser sind?«
»Eher nicht.« Yngve schüttelte den Kopf. »Wir sind schon länger als einen halben Tag unterwegs und haben keinen Menschen getroffen. Das wäre ein mageres Jagdrevier für Kannibalen!« Er streckte eine Hand aus und half der Barbarin aus dem engen Cockpit.
»Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Dieser Tempel… diese Maschine ist bestimmt einem ihrer Götter geweiht. Wenn sie merken, dass wir sie betreten haben, werden sie uns als Frevler ansehen.«
»Dann sollten wir besser verschwinden«, sagte Aruula noch, als der Himmel seine Schleusen öffnete. Von einem Moment auf den nächsten begann es zu schütten.
Sintflutartiger Regen rauschte auf die Blätterpilze, Donner grollte, und der Sturm wütete durch den Wald wie eine Horde heulender Dämonen.
Eine komplette Riesenpflanze verfing sich nahe der Tür. Yngve wagte sich ins Freie, um sie zu bergen. Er wurde fast weggeweht. Triefend nass kehrte er mit seiner Beute ins Flugzeug zurück. Aruula schüttelte amüsiert den Kopf, als er die großen weichen Blätter vor ihr ausbreitete. Sie fragte ihn, was er vorhätte. Yngve wurde verlegen.
»Na ja – ich dachte, du möchtest dich vielleicht ein bisschen ausruhen«, sagte er. Das war selbst für postapokalyptische Barbaren ziemlich abgenudelt. Der Mann aus Noorweje errötete. Aruula wandte sich um und tat, als hätte sie nichts bemerkt.
Wenigstens hingen Beeren an der Pflanze, so war die Aktion nicht völlig umsonst gewesen. Yngve probierte eine, überließ der Barbarin den Rest und verschwand im Cockpit. Um das Dorf zu beobachten, wie er sagte.
Aruula brachte es nicht fertig, den Gefährten hungern zu lassen. Warum auch? Er hatte nichts getan. Also riss sie eines der Blätter ab, rollte es zur Tüte und füllte die Hälfte der Beeren ein. Dann wartete sie geduldig.
Irgendwann würde Yngve schon zurückkehren.
Der Nachmittag verwehte mit Tosen und Heulen; es wurde Abend, und es goss noch immer. Der Wind hatte sich verändert. Er kam nicht mehr in orkanartigen Böen daher, sondern gleichmäßig und stark.
Bei Einbruch der Dunkelheit ließ das Unwetter endlich nach. Doch es war zu spät, um noch aufzubrechen, und so beschlossen die beiden, im Flugzeug zu übernachten.
Sie wollten abwechselnd Wache halten, um nicht von den Fremden überrascht zu werden. Aruula war davon überzeugt, dass der Sturm am nächsten Morgen vorüber sein würde. Yngve hingegen glaubte, er würde noch länger anhalten. Sie hatten beide Unrecht.
Der Sturm war nur ein unbedeutender Ausläufer. Ein Vorbote, der nichts weiter tat, als am Rande dessen herum zu spielen, was sich zur Stunde auf Sumra zu bewegte. Es hatte als Wellenstörung begonnen, draußen am Chagos-Archipel, dem kleinen Eiland in der Weite des Ozeans. Das war zwei Tage her. Inzwischen hatte sich aus Luft und Wasserdampf ein Wirbelsturm gebildet. Taifun hieß eine solche Naturgewalt, oder Hurrikan. Wenn sie südlich des Äquators entstand, nannte man sie einen Zyklon.
Letztendlich war die Bezeichnung egal, man hätte auch einfach Mörder sagen können. Doch die Menschheit hatte schon immer das Bedürfnis, bedeutsame Namen für das zu erfinden, was sie erschreckte. Selbst Meteorologen vergangener Zeiten hätten angesichts dieses Sturms ihre alphabetische Reihenfolge über Bord geworfen und ihn Leviathan genannt. Kein anderer Name war passender für das Ungeheuer, das sich vom Ozean heran wälzte…
***
Tag 1, nahe Ipoh (Malaysia West)
Im Jahre 1998 gelangte ein reicher Amerikaner während seines Urlaubs auf Malaysia West zu der Einsicht, dass sich am Strand von Ipoh ein Vermögen verdienen ließe. Dort gab es goldgelbe Sandstrände, Kokospalmen und einen schönen lichten Mangrovenwald. Der Amerikaner investierte sein ganzes Vermögen in die Luxus-Ferienanlage Redford Bay. Sie brachte ihm viele Millionen Dollar ein.
Als Daa'tan und die Schiffbrüchigen erschöpft an Land krochen, retteten ihnen die Überreste von Redford Bay das Leben. Die kleinen Bungalows waren nur noch Ruinen, doch das reichte als Schutz vor dem schrecklichen Sturm.
Hinter den Mauern konnte man sich ausstrecken und durchatmen, während der längst an die Hütten herangewachsene Mangrovenwald wie von Furien
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