172 - Der Sturm
Daa'tan blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der stetig anschwellende Wind brachte keine Linderung – er blies unangenehm warm und trieb dazu noch den Sand hoch.
Feine Schleier erfüllten die Luft, machten das Atmen schwer und riefen Trugbilder hervor. Daa'tan glaubte in diesiger Ferne ein Geisterschiff zu sehen. Still und mit gebrochenen Masten zog es vorbei. Es verschwand, als er einmal blinzelte.
»Komm rein, Junge! Das hat doch keinen Zweck!«, rief Ravi Shan von der Tür aus. »Du kannst deine Bäume immer noch eingraben, wenn der Sturm vorbei ist. Jetzt iss erst mal was!«
Lockend schwenkte er ein Stück gebratenen Fisch, und Daa'tan gehorchte. Insgeheim war der Zwölfjährige froh, dass ihn jemand aus Sand und Wind herausholte, doch das konnte er natürlich nicht zeigen. Nachher hätten sich die Erwachsenen noch im Recht gefühlt.
»Nie darf man was!«, maulte er deshalb beim Betreten der Hütte, ließ sich das aufgespießte Essen reichen und fuhr fort, an Grao'sil'aana gewandt: »Es ist stinklangweilig hier! Wir hätten in Induu bleiben sollen, wie ich es gesagt hatte. Aber auf mich hört ja keiner.«
»Sei mal nicht so frech, Junge! Dein Onkel ist bestimmt nicht zum Spaß auf die Reise gegangen«, mahnte Ravi Shan. Er wandte sich an den vermeintlichen Induu-Kaufmann. »Was willst du eigentlich auf Bono, Grao Sahib?«
»Ich suche einen brennenden Felsen«, sagte der Daa'mure zwischen zwei Bissen. Er erstarrte, als die Antwort kam.
»Oh, den kenne ich.« Ravi Shan nickte.
Grao'sil'aana ließ den Fisch sinken. »Du kennst ihn?«, sagte er perplex.
»Ja.« Der Seemann fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Er steht auf einer Landzunge vor Djermasin. Das ist der größte Hafen von Bono, da legen wir immer an. Der Felsen brennt jede Nacht; man sieht es bis weit aufs Meer hinaus!« Er nickte seinen Leuten zu.
»Ist 'ne gute Hilfe, um das Schiff an den Pier zu bringen, was, Jungs?«
»Wenn man eins hat«, murrte der Kapitän. Er schien noch immer um seine verlorene Brigantine zu trauern.
Daa'tan war in heller Aufregung. Das dumme Schiff interessierte ihn nicht – aber der Felsen! War er aufgespürt? Daa'tan zappelte vor Ungeduld, als er sich an Grao'sil'aana wandte. Er bemerkte noch rechtzeitig dessen warnenden Blick, klappte hastig den Mund wieder zu und begab sich auf mentale Kommunikationsebene.
(Kannst du die Gedächtnisbilder des Primärrassenvertreters sehen, Grao?)
(Ich kann. Und mein Name ist Grao'sil'aana.) (Entschuldige. Stellst du eine Verbindung zu mir her?
Bitte! Ich muss unbedingt wissen, was Ravi Shan auf Bono gesehen hat.)
Daa'tan spürte ein Prickeln auf der Nackenhaut, als die telepathische Macht des Daa'muren ihm Zugang zu Ravi Shans Gedächtnis verschaffte. Er schloss die Augen.
Bilder fluteten heran.
Nacht auf hoher See, Sternenhimmel, alles ruhig. Der Käpt'n steht am Bug, Pfeife rauchend. Über seiner Schulter, in der Ferne, leuchtet ein Feuer aus der Dunkelheit. Schwach zeichnet sich der Umriss eines Felsens ab. Hinter ihm liegt die Küste von Bono mit ihrer Lichterstadt. Im Zeitraffer segelt das Schiff auf den Hafen zu. Der Felsen wächst und wächst. Auf seiner abgeflachten Spitze lodern Flammen. Er leuchtet rot im Widerschein.
(Und? Ist das der Felsen aus deiner Vision?) (Ich bin mir nicht sicher, Grao.)
(Nicht sicher? Was soll das heißen?)
Daa'tan sprang auf, von Jähzorn getrieben. Eine Ader pochte an seiner Schläfe, und er fauchte: »Das heißt: ich weiß es nicht genau! Kann sein, oder auch nicht. Meine Vision damals war verschwommen. Es ist ja auch schon eine Weile her.«
(Ich kann sie dir gerne ins Gedächtnis rufen.) Aus Grao'sil'aanas sanfter Stimme klang die Falschheit der Schlangen. Daa'tan starrte ihn wütend an.
»Will ich nicht! Lass mich in Ruhe! Ich muss mich um die Bäume kümmern!« Er stapfte auf die Tür zu. Hinter sich hörte er Ravi Shan ehrfürchtig fragen: »Der Junge hat Visionen?«
Grao'sil'aana antwortete: »Nein, eindeutig nicht. Sonst wüsste er, was passiert, wenn er jetzt ins Freie tritt.«
Daa'tan hatte noch Zeit, die Stirn zu runzeln. Das Nachdenken musste er auf später verschieben. Wind sprang ihn an; der Junge erhielt einen solchen Stoß vor die Brust, dass er taumelte.
Ravi Shan zerrte ihn in Sicherheit. Daa'tan war so beschäftigt gewesen mit den Bildern des brennenden Felsens, dass er das Tosen draußen völlig ausgeblendet hatte. Er sah noch den Himmel, ehe ihm die Hüttenwand den Blick
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