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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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geschafft. Yngve kroch als erster auf die Tragfläche, um den Weg zu testen. Das Hochklettern an der Pilzkolonie erwies sich als schwierig. Die Füße des Kriegers fanden keinen wirklichen Halt, und wo immer er hin griff, erwartete ihn glattes, nachgiebiges Material.
    Yngve erschrak, als er den Himmel sah. Tief hängende, dunkle Wolken zogen vorbei, mit schwefelgelben Zwischenräumen. Doch aus dem Westen, nicht mehr weit entfernt, nahte eine schwarze Wand.
    »Wir müssen uns beeilen!«, rief er über die Schulter zurück. Aruula holte auf. Seite an Seite kletterte sie mit ihm die Tragfläche hoch, vom Wind umtost. Hinter ihr quoll dichter Rauch aus dem Flugzeug.
    Plötzlich begann es in Strömen zu regnen. Die Pilzhüte wurden glitschig, Aruula verlor den Halt und rutschte mit einem Aufschrei fort. Yngve erwischte ihr Handgelenk. Er hielt sie fest, während sich die Barbarin entschlossen hoch kämpfte.
    Inzwischen hatte einer der weiter entfernt stehenden Feinde die Flüchtenden entdeckt, und ihr Anführer gab den Befehl zur Verfolgung. Als Aruula und Yngve an den Felsen herunter kletterten und in den Mangrovenwald spurteten, hatten sie den gesamten Clan auf den Fersen. Allerdings nicht lange.
    Aus dem Wind wurde Sturm, aus dem Regen wurde Hagel. Scharfkantiges Eis prasselte herunter, immer mehr, immer windgepeitschter. Trotz der frühen Mittagsstunde wurde es dunkel wie am Abend. Die Bäume neigten sich in Schräglage, es krachte und splitterte überall, und ein nie gehörtes Geräusch schwoll an. Leviathan zog auf. Aruula und Yngve rannten um ihr Leben.
    Wie durch ein Wunder traf sie keiner der großen Hagelklumpen am Kopf. Ansonsten wurden die Gefährten nicht verschont: Ihre Schultern und Rücken waren innerhalb kürzester Zeit blutig verschrammt.
    Allmählich sank der Sturm immer tiefer, erfasste nicht nur die Baumkronen, sondern auch mannshohes Gesträuch. Aruula und Yngve kamen an eine Wasserstraße. Im Uferbewuchs hing ein Fischerboot fest.
    Da waren Blutspuren an Deck und ein Loch in der Bootswand – aber auch eine Kajüte mit schützendem Dach! Yngve schob das Boot frei, dann folgte er Aruula an Bord.
    Sie retteten sich in die Kajüte. Blut und Wasser rann an ihren Körpern herunter, ihr wilder Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Um sie herum tobte ein schrecklicher Sturm. Sprechen wäre nutzlos gewesen, selbst das lauteste Schreien wurde einem von den Lippen gerissen. Atmen konnte man nur, wenn man den Kopf in den Armen barg.
    Es hagelte noch immer. Eisklumpen knallten an Deck und auf das hölzerne Kajütendach. Sie sprangen in hohem Bogen davon, hinein in den tosenden, heulenden Wind. Er schleuderte sie in Wogen, die groß und schäumend wurden, denn die Wasserstraße lief auf das Meer zu – und von dort kam das Verderben.
    Leviathan schob gewaltige Flutwellen vor sich her. Die meisten donnerten den Strand hoch und rissen alles fort, was sich dort aufhielt. Vereinzelte jedoch trafen genau auf das Ende einer Wasserstraße – und Wasser war kein Hindernis. Die Flutwelle verband sich mit ihm und drückte es zurück. Immer weiter, immer schneller.
    Yngve und Aruula tauschten erschrockene Blicke, als sie merkten, dass ihr Boot plötzlich rückwärts fuhr. Die Barbarin zeigte nach vorn, auf das Kajütenfenster.
    Dahinter war nichts mehr zu sehen. Kein Strauch, kein Baum, kein Himmel. Nur noch Wasser. Eine gigantische Wand schob sich auf das kleine Boot zu. Hinter ihr zuckten Blitze herunter, jede Menge, und in ihrem Licht wirkte die Wand wie milchiggrünes Glas.
    »Da kommt eine Flutwelle!«, brüllte Yngve so laut er konnte. »Du musst dich gut festhalten, Aruula!«
    Der Krieger wusste, dass Festhalten nichts nützen würde, aber noch gab es Hoffnung: Wenn die Welle brach, bevor sie das Boot erreichte, konnte man das Zusammentreffen überleben.
    Yngve rechnete nicht wirklich damit. Er schob Aruula ans nutzlose Steuer, wo sie sich festklammern konnte, und strich ihr übers Haar. Dann tat er das, was alle guten Krieger taten, wenn es mit ihnen zu Ende ging. Yngve sprach ein Gebet – in Gedanken, weil der tobende Sturm keine Worte zuließ.
    Das rückwärts treibende Boot wurde langsamer.
    Yngve bat seine Ahnen um Verzeihung für die Misserfolge in seinem Leben.
    Donnernd nahte die Flutwelle. Yngve rief die Krieger der Vergangenheit an seine Seite, damit er in dieser Stunde nicht allein war. Er wusste nicht, dass man auf den Dreizehn Inseln fast genauso betete und dass Aruula seine Worte

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