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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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mitsprach.
    Hundert Meter noch. Das Boot hob den Bug.
    Und die Welle brach.
    Schäumend und tosend stürzte sie herab, glitt unter den Kiel und hob das Boot an. Es stieg bis an die Baumkronen, fiel zurück und wurde mit hoher Geschwindigkeit durch die Wasserstraße geschoben; Heck voraus und von Gischt und Donnern umgeben.
    Yngve und Aruula klammerten sich verzweifelt am Ruder fest. Durch die Gegenströmung entstanden riesige Wirbel. Einer erfasste das Boot. Die Beplankung ächzte, das Deck wurde überspült, Holz flog davon.
    Der Bug drehte sich.
    Die Platz suchende Flutwelle erreichte einen Seitenarm, drückte sich selbst und das Boot hinein. Ihr tobendes Wasser verlief sich. Das Boot wurde nach Süden getrieben, an den Rand des Sturms. Der Küste entgegen.
    Leviathan hatte zwei Opfer verloren. Nun wirbelte er über das Südchinesische Meer auf Malaysia Ost zu. Doch er würde noch einmal zurückkehren. Morgen…
    ***
    Tag 2, nahe Ipoh (Malaysia West)
    Wind pfiff über die Ruinen von Redford Bay. Ein neuer Tag brach an, mit trübem Licht und Nieselregen.
    Brandung rauschte den Strand herauf. Sie spülte beinahe zärtlich über die vielen toten Fische hinweg, die der Sturm letzte Nacht an Land geworfen hatte.
    Grao'sil'aanas Blick ruhte auf dem schlafenden Jungen an seiner Seite. Daa'tan grinste breit. Das tat er seit gestern Abend, als die Riesenqualle vom Dach gefallen war und den Daa'muren mit einer Flut stinkenden Wassers überschüttet hatte. Das hysterische Gelächter des Jungen hatte die Seeleute angesteckt und Grao'sil'aana zur Zielscheibe ihres Spottes gemacht. Es war schwer gewesen, nicht die Beherrschung zu verlieren und sie alle zu töten.
    Außerdem wurde es zunehmend mühsamer, die menschliche Tarnung aufrecht zu erhalten. Er brauchte dringend einige Stunden der Erholung, die er in seiner Echsengestalt verbringen konnte.
    Aus der Ferne scholl ein heiseres Quarren übers Meer.
    Der Daa'mure blickte unablässig auf Daa'tan, der ihn noch im Schlaf zu verspotten schien: Seine Kehle war so dünn und zart. Mehr als eine Hand wäre nicht nötig, um sie zu zerdrücken.
    Grao'sil'aana dachte an Ka'lin'eeri, die den Jungen anfangs betreut hatte. Daa'tan war noch fast ein Baby gewesen, konnte nicht einmal laufen. Und doch hatte er die Daa'murin beeinflusst! Sie zeigte plötzlich Emotionen, lachte über seine Unfähigkeit zur Wortbildung und ahmte sein sinnentleertes Geplapper sogar nach! Und sie sang, wenn sie ihn in den Armen hielt! Als Ka'lin'eeri dann noch begann, das Gesicht des Jungen zu berühren – mit Lippen, die der Nahrungsaufnahme dienten! – musste sie von dieser Aufgabe entbunden werden. Man konnte nicht zulassen, dass ihre Psyche Schaden nahm.
    Was ist mit meiner Psyche? fragte sich Grao'sil'aana. Es war es so leid, sich mit Daa'tan auseinander zu setzen!
    Von Seinesgleichen hatte er nie etwas anderes als Respekt erfahren; selbst die Entscheidung des Sol, ihm die Verantwortung für den Jungen zu übertragen, war trotz der niederen Natur dieser Aufgabe ein Zeichen von Wertschätzung gewesen. Du bist stark und gefestigt!, hatte der Sol gesagt. Dir kann das emotionsgesteuerte Gedankengut der Primärrassenvertreter nichts anhaben, das unsere Ziele und die Klarheit unseres Geistes untergräbt!
    Das war vor anderthalb Erdenjahren gewesen. Hatte es heute noch Gültigkeit? Der Daa'mure wusste es nicht.
    Er war ein Fremder unter Fremden. Ein Außenseiter, fast ständig in Tarnung und ohne adäquaten Gesprächspartner. Grao'sil'aana sehnte sich nach seinen Gefährten, zurück in die Sicherheit des Kollektives – denn er empfand immer häufiger etwas höchst Beunruhigendes: menschliche Gefühle! Schuld daran war der Junge, keine Frage. Er ließ wahre Gefühlsströme gegen den ranghohen Daa'muren los. Täglich!
    Unentwegt! Wie lange würde Grao'sil'aana immun bleiben? War er es überhaupt noch?
    Ich muss den Jungen beschützen – aber auch mich!
    Grao'sil'aana öffnete und ballte seine Faust. Die Männer ringsum schnarchten; er spürte ihre Bewegungen unter der Quallenhaut, die sie als Schutz vor Flugsand und Regen in der Hütte ausgebreitet hatten. Was, wenn er einem Unfall zum Opfer fiele?
    Die Hand des Daa'muren wanderte auf Daa'tans Kehle zu. Er bringt sich ständig in Gefahr, niemand wäre verwundert. Kalte Augen starrten den Jungen an. Wenn ich frei wäre, könnte ich zum Kratersee zurückkehren!
    Ein Seemann drehte sich um, grunzte unwillig und schnarchte weiter. Das heisere Quarren draußen kam

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