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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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Luftwurzeln hingen vom Dach. Viele hatten schon den Boden erreicht und sich verankert.
    Grao'sil'aana betrat eine Hütte, die Männer und Daa'tan folgten ihm. Allerdings machte der Junge gleich wieder kehrt, weil von draußen ein Ruf kam: »Seht nur! Seht!«
    Ravi Shan stemmte sich gegen den Wind, mit flatternden Haaren, und wies aufgeregt in den Wald.
    Daa'tan spurtete los. Hinter ihm griff Grao'sil'aana ins Leere. (Du kommst sofort zurück!)
    (Mach ich, Grao.)
    Als Daa'tan den Seemann erreichte, fragte er atemlos:
    »Was hast du entdeckt?«
    Ravi Shan sagte es ihm. »Da drüben steht eine Frau! Ich hab schon versucht, sie her zu winken, aber sie rührt sich nicht. Vielleicht ist sie verletzt!«
    Ein ganzes Stück entfernt ragten Felsen auf. Ein Wasserfall stürzte an ihnen herunter. Wenn der Wind die Sträucher verbog, konnte man Teiche erkennen, Treppenstufen und ein Brückengeländer aus Holz. Dort stand die Frau. Sie wurde bis zum Bauch von Grünzeug und einem Baumstumpf verdeckt, trug nichts weiter als einen Blütenkranz um den Hals und war irgendwie…
    merkwürdig. Daa'tan runzelte die Stirn.
    »Ihr Haar bewegt sich nicht!«, sagte er nachdenklich und wischte sein eigenes aus dem Gesicht. Regen strömte vom Himmel. Mit dem anschwellenden Wind kam das drohende Rumpeln näher.
    Ravi Shan ließ keinen Blick von der Fremden. Sie wiegte sich in den Hüften, mit angewinkelt erhobenem Arm. Lockte sie oder winkte sie um Hilfe? Der Seemann rannte los. Daa'tan wollte ihm folgen. Das hatte er noch nicht zu Ende gedacht, da meldete sich auch schon sein Bewacher.
    (Ich hatte dich zurückbefohlen!)
    (Aber Grao! Da hinten ist eine Frau! Wir müssen sie retten!)
    (Wenn ich dich holen muss, wirst du bestraft!) Ein Hagelkorn traf Daa'tan am Kopf. Unwillig rieb er sich die schmerzende Stelle. Ringsum prasselten weitere Körner herunter. Daa'tan lief los, vom Geräusch des Hagels begleitet, das sich im Sekundentakt verstärkte.
    Ein Rauschen begann, als würde eine Ladung Steine auf den Boden geschüttet. Daa'tan nahm seine Hände über den Kopf und kämpfte sich durch nasses Gesträuch.
    Zurückschnellende Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Es war ihm egal: Das Rauschen hinter ihm hatte sich in lautes Knallen verwandelt!
    Daa'tan rannte um sein Leben. Rechts und links schlugen Eisbrocken herunter, faustgroß und tödlich. Es wurden immer mehr. Manche streiften den Jungen; er ließ eine Spur aus Blutstropfen zurück. Irgendwo im tosenden Lärm hörte er Ravi Shan schreien, schrill und gequält. Die Hütten tauchten auf. Ein paar Meter noch, dann war es geschafft.
    Plötzlich verschwand das Tageslicht. Daa'tan rutschte auf dem regenfeuchten Boden aus, stolperte und fiel.
    Hände packten ihn, zerrten ihn auf den Eingang der Hütte zu.
    (Schnell jetzt! Schnell!), sagte Grao'sil'aana. Er klang ungewohnt emotional.
    Das ohrenbetäubende Knallen der Eisbrocken verblasste hinter einem anderen Geräusch: rumpelnde Eisenräder! Es mussten Millionen sein! Daa'tan spürte Boden unter den Füßen, rannte vorwärts, von Grao'sil'aana gehalten. Sie erreichten den Eingang, stürzten hindurch und gleich weiter zur Seite, an die schützende Wand.
    »Weg von der Tür!«, brüllte der Daa'mure einem Seemann zu, der die Ursache des frenetischen Lärms erkunden wollte. Er wurde vom heran wirbelnden, tosenden Tornadorüssel aus dem Eingang gesaugt und davon geschleudert. Wie ein welkes Blatt.
    ***
    Die Nacht senkte ihre schwarzen Schwingen über den Mangrovenwald und deckte seine Wunden zu.
    Leviathan war weiter gezogen – er tobte zur Stunde übers Südchinesische Meer –, und obwohl er die Blaue Lagune nur gestreift hatte, waren die angerichteten Schäden immens. Überall lag zersplittertes Holz. Büsche und Pflanzen hingen in den Bäumen, auf dem Waldboden gurgelten lehmige Sturzbäche dahin. In der nahen Wasserstraße hatte eine Flutwelle geschäumt.
    Alles war zerfetzt, zerschlagen und durch die Gegend geworfen. Der Wald sah aus wie das Spielzimmer von Orguudoos Brut.
    Noch immer pfiff der Wind durch die Baumkronen und brachte die Stämme zum Knarren. Doch seine tobende Wut war erschöpft. Was jetzt noch stand, würde stehen bleiben. Zumindest in dieser Nacht.
    Daa'tan, Grao'sil'aana und die Restbesatzung des verlorenen Seglers hatten das Inferno überlebt. Sie waren bis tief in die Nacht auf den Beinen geblieben, um nicht von neuen Attacken des Unwetters überrascht zu werden. Inzwischen hatte sie die Erschöpfung übermannt und sie waren

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