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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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näher. Grao'sil'aanas Finger krümmten sich. Wir würden einen zweiten Homoflor aufziehen! Besser und perfekter als diesen hier!
    Das Quarren wurde laut. Es klang nach einem Seevogel; der Lautstärke nach musste er ziemlich groß sein.
    Und niemand würde mich mehr Grao nennen!
    Es war schon ärgerlich, dass ausgerechnet jetzt dieses Bild vor Grao'sil'aanas innerem Auge erschien, das sich partout nicht aus seinem Gedächtnis entfernen wollte: Daa'tan, wie er über ein Lavafeld auf ihn zu gerannt kam [3] , die Arme ausgebreitet und ein Jauchzen in der Stimme. Der Junge hatte sich nicht nur gefreut, ihn zu sehen – er war glücklich gewesen. So ein Verhalten zeigten Daa'muren nie.
    Grao'sil'aana zog die Hand zurück, stand auf und trat ans Fenster.
    Ein gewaltiger Vogel kam übers Meer. Seine lederartigen Schwingen flatterten bedenklich, während er knapp über den Wellen dahin flog. Genau auf die Hütte zu.
    Etwas ist falsch an diesem Anblick!, grübelte der Daa'mure, und plötzlich entdeckte er den Fehler: Der Vogel flog nicht – er wurde getrieben! Hinter dem Tier war ein schwarzes Wolkenband unterwegs, aus dessen Unterseite Rüssel wuchsen. Wann immer sie das Meer berührten, schossen riesige Mengen Wasser in die Höhe.
    Grao'sil'aana warf sich herum, riss den schlafenden Jungen hoch und rannte mit ihm aus der Hütte. Sie war kleiner als der Vogel, der soeben den Strand erreichte.
    »Ihr da! Raus!«, brüllte der Daa'mure den Männern zu.
    Die Seeleute waren Befehlsempfänger und deshalb gewohnt, sofort zu reagieren. Nur ihr Käpt'n nicht. Er rieb sich die Augen und fragte schlaftrunken, was los sei.
    Es war das Letzte, was man von ihm hörte.
    Tosende Windböen heulten heran und schleuderten den mächtigen Vogel gegen die Hüttenwand. Sie barst mit lautem Krachen. Eine Wolke aus Blut, Federn und Geröll kam hinter den Flüchtenden her.
    Daa'tan rannte mit Grao'sil'aana durch den Mangrovenwald – fort von der schwarzen Wolkenfront mit ihren unheimlichen Rüsseln. Die Baumkronen begannen zu rauschen, Früchte stürzten durch brechendes Gezweig herab. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Kein einziges Tier ließ sich blicken.
    Hin und wieder stießen die Schiffbrüchigen auf zersprengte Steinplatten am Boden. Sie gehörten zu dem Wegenetz der Ferienanlage, das die Strandbungalows mit dem zweiten Komplex von Redford Bay verband, einer Lagunenlandschaft. Sie war künstlich erschaffen worden – mitten im Mangrovenwald! – und galt seinerzeit als sehr romantisch. Man musste Amerikaner sein, um das zu verstehen.
    Die Schiffbrüchigen hatten keine Zeit für Romantik.
    Sie suchten verzweifelt nach einem Unterschlupf, irgendeiner sicheren Bleibe, die Schutz bot vor dem nahenden Sturm. Keiner von ihnen wusste, was da übers Meer heran tobte – aber dass es etwas Großes war, das konnten sie hören. Da war ein Rumpeln im Wald, wie von schweren Eisenrädern. Es wurde lauter und lauter.
    »Ich kann nicht mehr! Mir stechen schon die Seiten!«, japste Daa'tan. »Hast du gehört, Grao? Ich – kann – nicht – mehr!«
    (Doch, du kannst! Mach den Mund zu und lauf weiter!) Der Zwölfjährige schnaubte empört. Er hatte so viel zu erzählen, aber er durfte mal wieder gar nichts, das war ja so typisch!
    »Warum kann ich mir die Wolke nicht ansehen, Grao?«
    (Weil sie tötet. Ich nehme an, du möchtest nicht sterben.) Daa'tan schüttelte flüchtig den Kopf. »Nein, aber… oh, weißt du was? Ich habe ganz seltsame Sachen geträumt! Jemand wollte mich erwürgen.«
    (Wie schön. Was ist das da vorne links?) Grao'sil'aana zeigte auf einen alten Wegweiser. (Sieht aus wie ein Konstrukt der Primärrassenvertreter. Wir sollten nachsehen!
    Möglicherweise gibt es dort Hütten.)
    »Schon wieder Hütten?«, maulte Daa'tan. »Ich will aber draußen bleiben! Der Regen erfrischt, und vielleicht kommt ja auch die Wolke hier vorbei.«
    (Sie kommt mit Sicherheit. Genau deshalb suchen wir einen Unterschlupf!)
    Eine heftige Böe überholten den Daa'muren. Sie brachte die Riesenblätter wilder Philodendren zum Flattern. Grao'sil'aana wechselte beim Laufen in ihre Richtung, als sichtbar wurde, was dahinter lag. Hütten!
    Sie gehörten zur Blauen Lagune von Redford Bay. Ihr Architekt hatte versucht, die Bauten in die Landschaft zu integrieren: Ihre Form war bizarr, die Dächer waren mit einer Drainage ausgestattet und bepflanzt. Anstelle der exotischen Blumen von einst wucherte nun ein Gewirr aus Kletterpflanzen und Baumsprösslingen.

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