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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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eingeschlafen.
    Am Himmel über ihnen jagten Sturmwolken dahin, groß und schwer. Gelegentlich blinkte ein Stern dazwischen auf. Einmal erschien sogar der Mond. Sein unwirkliches Silberlicht glitt über den Wald und die Blaue Lagune, den Wasserfall hinunter, über den Teich und das hölzerne Brückengeländer entlang. Es streifte auch die Frau, um deretwillen Ravi Shan sein Leben aufs Spiel gesetzt und verloren hatte. Der Seemann lag vor ihr am Boden, eine Hand nach ihr ausgestreckt und von Eisbrocken zermalmt.
    Die Frau aber stand noch immer an ihrem Platz und wiegte sich im Nachtwind. Ihr Körper endete unterhalb der Hüfte auf einer fest verankerten Sprungfeder.
    Sie war aus Plastiflex.
    Auch das Brückengeländer, die Felsen und die Uferpartien mit ihren Kokospalmen und Riesenmuscheln hatte man aus dem ungemein haltbaren Kunststoff gefertigt. An der Blauen Lagune war nichts echt. Nicht einmal die Bepflanzung.
    Nur das Wasser.
    Es kräuselte sich im Mondschein, wenn ein Regentropfen herunterfiel. Hier und da trieben.
    Fäulnisblasen an die Oberfläche. Dann kam etwas Größeres hoch. Lautlos pflügte es durchs Wasser, schwarz und glänzend. Seine Vorfahren hatte ein unfreiwilliger Wirt aus dem nahen Fluss in die Lagune getragen – damals, als Blutegel noch klein und handlich waren. Diesen hier trug niemand irgendwo hin. Er war über einen Meter lang. Roogu nannten ihn die Einheimischen, das bedeutet Vampir.
    Wolken schoben sich vor den Mond, es wurde dunkel im Mangrovenwald. Der Roogu schlängelte an Land, verharrte und wippte suchend mit dem Kopf. Ähnlich wie die Shaakas konnte er aus weiter Entfernung selbst kleinste Mengen Blut riechen – und obwohl Daa'tans Tropfenspur längst vom Regen fortgespült war, gab es auf dem Weg zur Hütte noch genug Partikel, um den Roogu durch die Nacht zu leiten.
    Es dauerte nicht lange, bis er den Eingang erreicht hatte und über die Schwelle glitt. Der Roogu war ausgehungert. Er hatte seine letzten Reserven auf die Produktion einer Schleimspur verwendet, die das Kriechen über Stock und Stein ermöglichte. Nun lagen mehrere Körper vor ihm, randvoll angefüllt mit Blut.
    Einen davon tastete er ab, suchte nach der pochenden Halsschlagader. Er fand sie. Sein Maul öffnete sich und entblößte ein teuflisches Gebiss aus spitzen, nadeldünnen Zähnen, allesamt hohl und am Ansatz perforiert. Sie funktionierten wie Strohhalme und erlaubten einen schnellen Transfer. Der Roogu richtete sich auf. Das Opfer würde ihn kaum bemerken; er war geübt, und seine Waffen waren fein. Er versenkte sie ohne Eile.
    Daa'tan stöhnte im Schlaf.
    ***
    Tag 2, westlich von Kap Datuk (Malaysia Ost)
    Es regnete, dem Geräusch nach ziemlich stark. Warme Tropfen fielen auf Rulfans Gesicht, aber nur vereinzelt und nicht Grund genug für ihn, die müden Augen zu öffnen. Der Albino lag unter dem Blätterdach einer großen Pflanze. Es musste ziemlich früh am Morgen sein, denn von der Schwüle malayischer Sommertage war noch nichts zu bemerken.
    Rulfan hörte Geero schnarchen und Tanaya vor sich hin murmeln. Die Bauerntochter aus der Nähe von Rooma sprach Ittalyanisch im Schlaf. Rulfan verstand ihre Worte nicht, doch er ahnte, was durch Tanayas Kopf spukte.
    Die Gefährten hatten gestern stundenlang nach Muk'tar gesucht, ohne eine Spur zu finden. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt! Irgendwann waren sie weiter gezogen; durch Wind und Monsunregen in die Dunkelheit hinein und von der quälenden, irrationalen Vorstellung verfolgt, einen Freund im Stich gelassen zu haben.
    Rulfan seufzte. Bin ich Schuld an Muk'tars Schicksal?
    Hätte ich bei der Culloden bleiben sollen, statt vier Menschen in den Wald zu führen, die keine Krieger sind?, fragte er sich.
    Sha'miis Arm lag ihm schwer auf der Brust. Rulfan spürte die junge Frau an seiner Seite; sie rührte sich nicht, und er dachte erleichtert: Wudan sei Dank – sie ist endlich eingeschlafen! Sha'mii hatte so geweint, als er die Suche nach Muk'tar aufgab. Sie war die halbe Nacht hindurch auf den Beinen geblieben, hatte nach dem Induu gerufen und war jedes Mal losgerannt, wenn sie ihn irgendwo zu hören glaubte. Rulfans Warnung, dass es gefährlich sei im dunklen Mangrovenwald, hatte sie ignoriert. Um diese Jahreszeit reiften die Baumfrüchte, und der anhaltende starke Wind hielt reiche Ernte. Trotzdem wollte die kleine Thalari Muk'tar nicht als verloren akzeptieren.
    Sha'mii hat ein gutes Herz, dachte der Albino.
    Chira kam heran, winselte in Rulfans Ohr

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