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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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und schlappte ihm mit nasser Zunge durchs Gesicht. Sie hatte längst aufgehört, sich vor dem Lärm im Wald zu erschrecken, und wollte anscheinend unterhalten werden. Rulfan wusste, dass die junge Lupa keine Ruhe mehr gab, wenn sie sich langweilte. Er gähnte. Die Nacht war vorbei!
    Wenn sich Sha'mii abgewöhnen könnte, mich zu belauschen, wäre sie keine schlechte Gefährtin! Rulfan blinzelte, als Regentropfen seine Wimpern trafen. Er wollte die Frau mit den schönen Augen nicht wecken, deshalb griff er nach ihrem Arm, um ihn vorsichtig bei Seite zu legen. Der Arm war so kalt. Und so steif.
    Rulfan drehte sich stirnrunzelnd um. Im nächsten Moment sprang er hoch, von Entsetzen geschüttelt.
    Sha'mii hatte kein Gesicht mehr. Unterhalb der Stirn ragte ihr eine faustgroße Stachelfrucht aus dem Kopf.
    »Sha'mii!«, brüllte der Albino erschüttert. Chira bellte wie verrückt, Geero und Tanaya schrien, noch bevor sie überhaupt wussten, was los war. Rulfan taumelte zurück. Als ihm klar wurde, dass er die ganze Zeit über eine Tote im Arm gehalten hatte, fiel er auf die Knie und erbrach sich. Seine Tränen blieben unbemerkt.
    ***
    »Ich werde sie töten, diese Scheißkerle!«, schnarrte Geero beim Schärfen der alten Steinaxt. Er wischte sich den Tropfen unter der Nase weg, sprang auf und brüllte in den Wald: »Hört ihr, ihr verdammten Scheißkerle? Ich werde euch töten! Allesamt!«
    Erschrockenes Flattern in den Baumkronen war die Antwort. Schwer atmend sah sich Geero um. Rulfan und Tanaya hatten ein Grab ausgehoben und Sha'mii hineingebettet. Ein großes Blatt verdeckte ihren Kopf. Die Gefährten legten Blüten auf den schlanken Körper – zart, fast als hätten sie Angst, das junge Mädchen zu wecken.
    Tanaya sprach dazu das rituelle Gebet.
    Dem bulligen Doyzländer quollen Tränen aus den Augen. Er zeigte auf Chira, die hechelnd am Boden kauerte und nicht verstand, was hier geschah. »Warum hat sie nicht gebellt?«, schluchzte er. »Ich meine, sie muss den Kerl doch bemerkt haben, der Sha'mii das angetan hat! Warum hat Chira nicht gebellt?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Rulfan. Seine Hände bebten, als er Erde ins Grab schaufelte.
    Tanaya wandte sich an den Doyzländer. »Vielleicht war es nur ein Unglück! Stachelfruchtpalmen gibt es überall im Wald, und es hat ziemlich gestürmt letzte Nacht. Da wäre es doch möglich…« Sie brach ab, weil Geero entschieden den Kopf schüttelte.
    Die Telepathin folgte seinem Blick hinauf zu den dunklen Wolken. Der Baum, der hinter dem Lager der Gefährten stand, trug keine Früchte – aber in etwa acht Metern Höhe ragte ein Ast nach vorn; genau über den Platz, an dem Sha'mii gelegen hatte. Kleine Triebe am Holz waren zerknickt. Als hätte dort jemand gesessen.
    Geero nickte grimmig. »Scheißkerle!«, knurrte er und fuhr fort, die Axt zu schärfen.
    Wind kam auf. Er verwirbelte den feinen warmen Monsunregen, der wie silbernes Gespinst auf den Haaren der Gefährten lag. Irgendwo in der Ferne grollte Donner.
    Tropfen fielen vom Himmel.
    Bis Rulfan und Tanaya ihre Arbeit vollendet hatten, goss es in Strömen. Die Baumkronen rauschten wie Meeresbrandung, und ringsum hörte man den dumpfen Aufschlag großer Früchte.
    Der Albino verschwendete keine Zeit auf die Hoffnung, einen Unterschlupf zu finden.
    »Haltet Ausschau nach einer Wasserstraße!«, rief er stattdessen, als er sich mit Geero und Tanaya durch das gefährliche Gelände kämpfte. »In Ufernähe wachsen Mangroven! Die werfen außer Blättern nichts ab.«
    Rulfan glaubte die Götter an seiner Seite zu haben, denn es dauerte nicht lange, bis ein schmaler Fluss in Sicht kam. Er verlief westwärts, Richtung Bono, und die Gefährten folgten ihm.
    Gegen Mittag hörte der Regen auf, und ein buntes Farbenspiel spannte sich vor den dunklen Wolken. Die Barbaren wussten nicht, wie ein Regenbogen zustande kam – für sie war die Erscheinung ein Himmelszeichen.
    Sie wollten ein Gebet sprechen und beschlossen ihren eiligen Fußmarsch zu unterbrechen.
    Rulfan sah sich nach Chira um. Die Lupa war durchnässt; Tropfen blinkten an ihren Ohrenspitzen, und sie starrte wie gebannt auf den Fluss. Der Albino runzelte die Stirn. Was gab es dort zu sehen?
    Etwas bewegte sich in Ufernähe unter den Wellen, schlängelnd, über einen Meter lang. Barteln ragten aus dem Wasser. Da war ein großer Wels unterwegs! Er hatte die Menschen noch nicht bemerkt und zupfte an den Wasserpflanzen herum, auf der Suche nach kleinen Fischen, die sich dort

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