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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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Wald raus! Auf offenem Gelände können sie uns nicht so mühelos angreifen.«
    Rulfan zeigte nach Westen. »Der Fluss verläuft in diese Richtung, nach Bono. Das Land ist kahl, und da wollen wir hin. Also los!«
    Tanaya runzelte die Stirn. »Die werden uns nicht einfach gehen lassen.«
    »Doch, werden sie.« Rulfan setzte sich in Bewegung.
    »Wir haben eins ihrer Jungen!«
    Der Albino wusste nicht, was er da im Arm hielt. Es musste ein Tier sein – deshalb hatte Chira auch nie angeschlagen und die Telepathen nichts erlauscht. Aber die Augen des Babys sahen so menschlich aus!
    2006 hatte es auf Borneo noch fünfhundert Exemplare der vom Aussterben bedrohten wilden Orang-Utans gegeben. Ein Drittel dieser Tiere, deren Name Waldmensch bedeutet, hatte die Apokalypse überlebt, und inzwischen war ihr Bestand wieder auf die Ausgangszahl angestiegen. Sie waren mutiert, wie viele andere Arten auch. Orang-Utans erreichten heute eine Gesamthöhe von einem Meter siebzig, gingen aufrecht und hatten einen passablen Intelligenzquotienten. Sie ernährten sich nicht länger vegetarisch.
    Irgendwann hatte eine aggressive Miniermottenart den Baumbestand in Bono, wie Borneo jetzt genannt wurde, derart dezimiert, dass die Tiere gezwungen waren, nach Malaya – Malaysia – auszuweichen. Hier lebten sie nun als Bayangs (indon.: Schatten) in den Mangrovenwäldern entlang der Küste. Sie fraßen, was sie fangen konnten. Bayangs unterschieden nicht, ob ihre Mahlzeit ein Fisch, ein Vogel, ein Vierbeiner oder ein Mensch war. Es wäre falsch gewesen, ihnen einen mörderischen Vorsatz zu unterstellen.
    Doch genau das hatten die postapokalyptischen Malayen getan und sie gnadenlos verfolgt. Sie waren den Menschenaffen aber weder an Zahl noch an Intelligenz bedeutend überlegen und hatten dazu den Nachteil, dass sie sich nicht in den Bäumen bewegen konnten. So ging der Sieg im Kampf um die Jagdgründe letztlich an die Bayangs. Und die überlebenden Malayen wanderten nach Meelay aus.
    »Ist es nun ein Tier oder ein Mensch?«, fragte Tanaya.
    Das Baby in Rulfans Armen patschte ihm mit der flachen Hand ins Gesicht und nörgelte weinerlich.
    »Spielt das eine Rolle?« Geero spuckte auf den Boden.
    »Es ist der Nachwuchs von Sha'miis Mördern! Ich sage: Dreht ihm den Hals…!« Er verstummte unter Rulfans Blick.
    Die Gefährten kamen gut voran. Der Wald wurde zusehends lichter, die Freiflächen größer. Am frühen Nachmittag tauchten Felsen auf; erst vereinzelt, dann ganze Formationen. Die Luft schmeckte salzig, und irgendwo in der Ferne war ein Rauschen und Donnern.
    Meeresbrandung!
    Rulfan lächelte den Telepathen zu. »Ich schätze, wir sind in Bono«, sagte er. »Sobald der Wald hinter uns liegt, machen wir eine Pause.«
    Tanaya zeigte missmutig nach vorn. »Und ich schätze, da zieht ein Gewitter auf! Seht euch mal den Himmel an! Haben wir die Götter verärgert oder was? Dieser elende Wind wird immer stärker!«
    »Ja, und ziemlich schnell.« Geero nickte. »Zu schnell! Ich sage euch, das ist kein Gewitter. Es ist ein Sturm! Wir sollten zusehen, dass wir einen Unterschlupf finden. Und bitte: Wirf das Ding endlich weg!«
    Die letzten Worte waren an Rulfan gerichtet. Das Bayang-Baby plärrte unentwegt, wand sich in den Armen des Albinos und biss nach ihm. Doch es war zu riskant, es frei zu lassen.
    Den Gefährten folgte ein ganzer Familienverband, versteckt in den Baumstraßen und angeführt von der Mutter des Jungen. Sie war als Einzige am Boden unterwegs. Ohne Deckung lief sie hinter Rulfan her, zwar auf Abstand, aber mit einer Stachelfrucht bewaffnet.
    Keine Frage, was sie damit tun würde, sobald das Junge aus der Schusslinie war.
    Geero entdeckte erste Ruinen. Früher hatte hier eine Stadt gestanden, von der noch einzelne Mauerreste erhalten waren. Sie ragten seltsam deplatziert in der unberührten Natur auf, die ihr einstiges Territorium längst zurückerobert hatte. Wind pfiff durch die Fensterhöhlen.
    Plötzlich wurde es still im Mangrovenwald. Kein Vogel rührte sich mehr, die Frösche verstummten, das Zirpen der Zikaden hörte schlagartig auf. Dafür wurde Chira unruhig. Die Lupa winselte, drückte sich eng an Rulfan. Sie stieß wiederholt mit der Schnauze nach ihm, als wollte sie sagen: Komm weg hier!
    Der Albino drehte sich nach den Waldmenschen um – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie einer nach dem anderen verschwand. Rückwärts, lautlos, wie ein Schatten.
    Urplötzlich fegten heulende Böen heran, drückten die Bäume

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