1722 - Flucht in die Finsternis
Lauf lassen, und darauf freute sie sich.
Zunächst musste sie warten. Die vier Helfer hatten ihr versprochen, zu kommen, um ihr zu zeigen, dass sie bereit waren. Einen Zeitpunkt hatten sie nicht ausgemacht, und so wartete Olivia, dass das Licht des Tages schwinden würde.
Ihr Zeichen hatte sie durch die Anrufe gesetzt. Sie hätte sich die Katangas gern angeschaut, weil sie sehen wollte, wie sehr sie unter ihrer Angst litten, doch das konnte sie nicht riskieren. Es konnte tödlich für sie sein, das Versteck zu früh zu verlassen.
Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen, dass ihre Zeit kam.
Sie war eine Wiedergängerin. Sie konnte sich wie ein Mensch benehmen, doch in ihrem Innern war nach wie vor der Drang vorhanden, satt zu werden. Und dafür brauchte sie Blut. Die Welt und was in ihr passierte, ging ihr am Gesäß vorbei. Sie kannte nur sich. Es war ihr egal, ob es in Japan zu einem Supergau kam und unzählige Menschen verstrahlt wurden, ihre Sorgen waren andere, und sie zuckte heftig zusammen, als ihr Gehör ein Geräusch an der Tür wahrnahm.
Sofort saß sie gespannter auf dem alten Stuhl. Sie richtete den Blick auf die Tür und öffnete den Mund, denn sie scheute sich nicht davor, ihre Waffen zu zeigen.
Ein Mann betrat den Schuppen, denn mehr war diese Unterkunft nicht. Olivia entspannte sich, als sie Gregor erkannte. Er war der Anführer des Quartetts.
Gregors Kopf war kahl. Der Mann stammte aus der Ukraine. Er war illegal ins Land gekommen. In seiner Heimat wurde er wegen Mordes und Vergewaltigung gesucht. Jetzt war er zu einem Halbvampir geworden und hatte endlich eine Heimat gefunden.
Er schlich auf Olivia zu und nickte, wobei sich sein breiter Mund zu einem Grinsen verzog. Er trug eine halblange dunkle Jacke, die in der Mitte von einem Gürtel verengt wurde. An den Seiten ragten die beiden Messergriffe hervor, denn das waren die Waffen, auf die sich Gregor verließ.
»Wir sind da!«, meldete er.
»Alle?«
»Ja, sie warten draußen.«
Olivia nickte und stellte dann die nächste Frage. »Wie sieht es draußen aus?«
»Es wird langsam dunkel.«
Ein Stöhnen wehte über die Lippen der Blutsaugerin. Genau das war die Antwort, die sie hatte hören wollen. Dennoch fragte sie: »Können wir denn jetzt schon gehen?«
Der Ukrainer schüttelte den Kopf. »Nein, ich würde noch eine halbe Stunde warten.«
»Ja, das ist gut.«
Dass sich das Licht vor der Garage oder dem Schuppen allmählich zurückzog, hatte Olivia schon gemerkt, ohne aus dem Fenster schauen zu müssen. Sie hatte es in ihrem Innern gespürt. Dort hatte sich etwas verändert. Die Schwäche oder Lethargie war allmählich verschwunden, und genau darauf hatte sie gewartet. Sie brauchte die Kraft für die folgenden Stunden, die nicht einfach werden würden.
»Was sagen die anderen?«
»Sie warten auf uns. Sie passen auf, dass niemand kommt.« Gregor grinste. »Obwohl wir vier schon jetzt nach frischem Blut lechzen.«
»Das weiß ich. Das ist bei mir nicht anders. Diese Nacht wird uns alle satt machen, das verspreche ich dir, und wir holen uns nicht nur die Katangas, aber sie zuerst.«
»Sehr gut.«
»Was ist mit ihnen? Ich habe dir doch befohlen, sie zu beobachten.«
»Keine Sorge, sie sind allein. Sie werden sich mit ihrer Angst beschäftigen.«
»Und weiter? Haben sie Hilfe geholt?«
»Bisher haben wir nichts gesehen.«
»Dann hoffe ich, dass es so bleibt.«
»Wen erwartest du denn?«
»Wir haben Feinde, das solltest du dir merken, und sie sind auch nicht auf den Kopf gefallen.«
»Bin ich auch nicht!«, flüsterte Gregor und schlug gegen die Griffe seiner Messer.
Olivia gab keine Antwort. Sie ging nur davon aus, dass es nicht leicht werden würde. Als sie sich erhob, drehte sich der Ukrainer um.
»Ich sehe mal draußen nach.«
»Tu das.«
Da die Fenster mit schwarzer Farbe gestrichen worden und deshalb nicht durchsichtig waren, musste er wieder bis zur Tür gehen. Er zog sie auf, und auch Olivia war es jetzt möglich, nach draußen zu schauen.
Das Tageslicht hatte den Kampf gegen die Dämmerung tatsächlich verloren.
Richtig dunkel war es noch nicht, sodass Olivia die Umrisse ihrer drei anderen Helfer vor der Tür sah. Auch sie warteten darauf, endlich verschwinden zu können.
Gregor drehte sich um. Sie sah sein blasses Gesicht schimmern und hörte seine Frage. »Reicht es dir?«
Sie stand auf und bewegte sich auf die Tür zu. Die Augen waren zu Schlitzen verengt, und sie wartete darauf,
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