1731 - Der Zwitter
Maxine Menschlichkeit nicht als einen Fehler an.
Im Moment hatte sie dafür bezahlt, und sie fragte sich jetzt, wie lange ihre Starre noch andauern würde. Sie war zudem eine Frau, die sich keine Illusionen machte. Dieser Besucher aus einer anderen Dimension hatte sie wehrlos gemacht, und sie glaubte nicht daran, dass er zurückkommen würde, um das zu ändern.
Und so blieb sie liegen und kam sich beinahe vor wie jemand, der auf sein Ende wartete…
***
»Du kannst fliegen?« Die Worte hatte Kim dem Vogelmädchen ins Ohr gerufen.
»Das merkst du doch.«
»Warum? Du bist ein normaler Mensch.«
»Nimm es einfach hin, dass ich Flügel habe. Du kannst dich freuen, denn du profitierst davon.«
»Ja, das hoffe ich. Aber wo fliegen wir hin?«
»Ich weiß es noch nicht.«
Da hatte Carlotta nicht gelogen. Tatsächlich verfolgte sie noch keinen Plan. Sie ließ sich einfach treiben und setzte darauf, dass ihr unterwegs eine Idee kam.
Sehr hoch war sie geflogen. Beide spürten die Kälte, die sich in dieser Höhe ausbreitete. Carlotta wusste deshalb, dass sie möglichst schnell in tiefere Regionen mussten, aber zuvor nahm sie sich noch die Zeit, den Himmel in ihrer Umgebung abzusuchen.
Eine Gefahr war nicht zu erkennen. Sie befanden sich als einzelnes Paar in der Luft, denn die Vögel hielten längst ihren Schlaf. Sie würden sich erst dann wieder melden, wenn die Nacht vorüber war und es hell wurde.
Den äußeren Bereich der Stadt Dundee hatten sie längst verlassen und flogen jetzt in Richtung Norden, einer Gegend entgegen, die Carlotta nicht unbekannt war. In dieser hügeligen Umgebung war sie schon öfter gewesen, doch tief hinein in die Einsamkeit wollte sie nicht fliegen, und deshalb verlor sie auch bald an Höhe, als ihr ein Gedanke gekommen war.
Kim klammerte sich noch immer an den Schultern des Vogelmädchens fest. Er musste etwas loswerden und rief erneut gegen den Fahrtwind an.
»Landen wir?«
»Ich denke schon.«
»Und dann?«
»Werden wir in Ruhe nachdenken.«
»Die Ruhe wird man uns kaum lassen.«
Carlotta sprach dagegen. »Bisher haben wir noch alles gut überstanden. Oder nicht?«
Die Antwort bestand aus einem harten Lachen, worum sich das Vogelmädchen nicht kümmerte. Es hatte seinen Kopf gesenkt, um nach einem günstigen Landeplatz Ausschau zu halten. Leicht war es nicht, denn unter ihr verschwamm der Boden in schattenhaften Grautönen. Aber sie unterschied, wo der Wald wuchs oder es frei war, und eine dieser mit Gras bewachsenen Lichtungen visierte sie an.
Kreisend verloren die beiden an Höhe. Nicht weit entfernt schimmerte dunkel das Wasser eines kleinen Sees.
Sie landeten sanfter, als es ein Fallschirmspringer vermochte. Als Carlotta die letzten Schritte lief, da war ihr Rücken bereits frei. Sie atmete tief durch, drehte sich dann um und sah ihren Schützling vor sich stehen, der nichts sagte und erst mal seinen Blick in die Runde gleiten ließ.
»Wo sind wir hier?«
Carlotta lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, dass wir hier in Sicherheit sind.«
Kim schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nirgendwo mehr in Sicherheit. Weder hier noch dort.«
»Was meinst du mit dort?«
»Meine Welt.«
»Gut. Und wo liegt die?«
»Nicht hier. Nicht auf diesem Erdball.«
»In einer anderen Dimension also?«
Kim staunte. »Du hast das so leicht dahingesagt. Kennst du dich vielleicht aus?«
»Nein, das ist zu viel gesagt. Aber ich habe durchaus davon gehört. Du merkst also, dass du bei besonderen Menschen einen Schutz gefunden hast.«
»Ja, das weiß ich mittlerweile. Bei Menschen, von denen einer fliegen kann.«
Carlotta blieb hartnäckig. »Und jetzt will ich wissen, woher du wirklich kommst.«
»Es gibt darauf keine Antwort, ich bin hin und her geschoben worden. Ich gehöre nicht zu den einen und nicht zu den anderen, das habe ich dir schon gesagt.«
»Okay, aber warum jagt man dich? Was will man von dir?«
»Man will mich zurückholen.«
Das Vogelmädchen lachte. »Das ist doch paradox. Warum will man dich zurückholen, wenn man dich nicht haben will?«
»Weil ich zu viel weiß.«
»Und weiter?«
»Weil man befürchtet, dass ich etwas erzählen könnte. Es macht sich gut, wenn Menschen hören, dass es Geschöpfe gibt, die aus Gut und Böse entstanden sind. Eltern, die so unterschiedlich sind, die aber Grenzen überwunden haben. Als Mutter einen Engel, als Dämon einen Vater. Das passt nicht.«
Carlotta sagte erst mal nichts dazu. Allerdings dachte sie über das
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