1731 - Der Zwitter
keine Gedanken, bitte.«
Das war so einfach dahingesagt. Carlotta verfiel ins Grübeln. Sie rechnete auch damit, das Falsche getan zu haben. Sie hätte nicht wegfliegen sollen, weil es sowieso keinen Sinn hatte, wie sie jetzt wusste. Und plötzlich gefiel es ihr nicht mehr, dass sie Maxine Wells allein zurückgelassen hatten. Carlotta dachte darüber nach, was sie ändern konnte, aber sie wollte nichts mehr allein entscheiden.
Ohne ihr Handy war sie nicht geflogen. Sie wusste zudem, dass sie sich in einem Gebiet befand, in dem es kein Funkloch gab. Bevor sie mit Kim zurückflog, wollte sie wissen, wie es ihrer Ziehmutter ergangen war.
Deshalb wollte sie anrufen und erfahren, ob alles noch in Ordnung war. Unter Umständen konnte ihr Maxine auch einen Rat geben.
Innerlich war sie schon recht nervös, als sie das Handy hervorholte und die eingespeicherte Nummer abrief.
»Rufst du Maxine an?«
Carlotta nickte nur. Sie wartete darauf, dass sich Maxine meldete, denn der Ruf ging durch.
Warten – warten…
Dieses eine Wort wiederholte sich ständig in ihrem Kopf und sorgte für ein Gefühl der Furcht. Nach knapp einer halben Minute sank der Arm mit dem Handy nach unten.
Kim hatte sie nicht aus dem Blick gelassen. Jetzt fragte er mit leiser Stimme: »Sie meldet sich nicht – oder?«
»Leider.«
»Und jetzt?«
Carlotta sagte nichts. Sie stand da, starrte auf den kleinen See, ohne ihn direkt zu sehen. Sie wusste selbst nicht genau, was ihr durch den Kopf schoss. Es waren auf keinen Fall positive Gedanken. Sie glaubte nicht daran, dass Maxine im Bett lag und schlief. Das traute sie ihr nicht zu. Dazu war zu viel passiert, das sie innerlich aufgewühlt hatte.
Es musste einen anderen Grund geben, und der konnte dem Vogelmädchen nicht gefallen. Er sorgte dafür, dass sie von einer unbestimmbaren Angst erfasst wurde. Sie konnte auch nichts dagegen tun, dass ihr der Schweiß aus den Poren brach.
Kim hatte sie beobachtet. »Du hast Angst um deine Ziehmutter, nicht wahr?«
»Das habe ich.«
Kim presste die Hände gegen seine Wangen. »Und ich trage die Schuld daran«, flüsterte er.
»Nein, du nicht und ich nicht. Wir alle nicht. Es ist das Schicksal, das uns diese Prüfung auferlegt hat. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Kann sein. Und was machen wir jetzt?«
Auf diese Frage hatte Carlotta eine Antwort. »Das ist ganz einfach. Ich kann hier nicht länger warten mit dem Gedanken daran, dass Maxine etwas passiert ist. Wir müssen wieder zurück und nachsehen.« Sie schaute Kim scharf an. »Wenn du willst, dann kannst du auch hier in der Einsamkeit bleiben und…«
»Nein, das will ich nicht.« Er hatte gesessen und stand jetzt auf. »Ich bin dabei. Letztendlich ist es meine Schuld. Ich habe euch in diese Lage gebracht.«
»Unsinn, das ist Schicksal.« Sie nickte Kim zu. »Okay, machen wir uns auf den Rückflug…«
***
Es war wie immer.
Maxine Wells befand sich in ihrem Haus. Sogar in ihrem Wohnraum. Nur lag sie auf dem Boden und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ihre Sinne blieben aber weiterhin normal, und so bekam sie alles mit, was sich in ihrer Umgebung tat.
Es war ja nie still, auch in der Nacht nicht. Sie hörte irgendwelche Geräusche, die harmlos klangen, von ihr aber nicht so empfunden wurden. Eines allerdings stand für sie fest, und das machte alles nur noch schlimmer.
Es war ihre Hilflosigkeit, aus der sie sich nicht befreien konnte. Und trotzdem musste sie noch froh sein, am Leben zu sein. Es hätte auch anders enden können.
Während sie auf dem Boden lag, dachte sie nicht nur an sich, sondern auch an Carlotta und Kim. Beiden war praktisch die Flucht gelungen, und Maxine hoffte, dass sie ein gutes Versteck gefunden hatten, obwohl das sicherlich nicht einfach gewesen war.
Was konnte sie tun? Nichts, nur warten und hoffen, dass diese Lähmung irgendwann verging. Die Schattengestalt wollte ihr nicht aus dem Kopf. Sie dachte immer wieder daran, wie sie durch das Fenster geglitten war. So etwas war normalerweise nicht möglich, und es stimmte schon, dass sie jemand war, der in einer anderen Dimension existierte.
Engel oder Dämon?
Eine Antwort darauf fand sie nicht. Vielleicht steckte von beidem etwas in diesem Besucher. Es war zudem müßig, sich darüber Gedanken zu machen.
Maxine Wells gab nicht auf. Immer wieder kämpfte sie gegen ihre Schwäche an. Sie versuchte, die Beine und auch die Arme anzuwinkeln, um etwas zu haben, an dem sie sich abstützen konnte, aber es klappte einfach
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