1737 - Das Blut der Zauberin
für die schöne Zauberin, die bewegungslos im Glassarg lag und die Augen halb geschlossen hielt. Ihre Arme waren gestreckt. Sie lagen auf dem Körper. Die Hände berührten sich nicht. Sie bildeten so etwas wie einen Kreis, als wollten sie etwas festhalten, das nicht mehr sichtbar war.
Toni musste eine Frage loswerden. »Wie lange ist sie denn schon tot?«
Leitner winkte nur ab. Er wollte keine Antwort geben. Dafür streckte er seinen Arm aus und schaffte es, den gläsernen Sargdeckel zu berühren.
»Fühlt sich stabil an.«
»Und was haben Sie jetzt vor?«
Der Professor hob den Kopf. Über die Öffnung hinweg starrte er seinen Helfer an. »Es gibt nur eine Möglichkeit, Toni. Wir werden in die Grube klettern und den Sarg öffnen.«
Hellmann sagte nicht. Er musste schlucken. Wie fest der Deckel saß, wusste er nicht. Es gab keine Verschlüsse oder Beschläge.
»Ich weiß nicht, ob wir das schaffen.«
»Ach, hören Sie auf. Wir müssen und werden es schaffen. Verlassen Sie sich darauf. Ich habe den Weg hierher nicht gemacht, um mir nur etwas anzuschauen. Nein, ich will es holen, verstehen Sie? Ich möchte diese Serena befreien.«
»Ja, verstehe, und dann?«
»Sehen wir weiter!«
Der Bergführer schüttelte den Kopf. »Ich will Ihnen keine Vorschriften machen, Professor, aber ich denke, dass es keine gute Idee ist. Bisher hat sich der Körper der Toten noch gehalten, weil er luftdicht verschlossen war. Sollte sich dies allerdings ändern, kann es sein, dass er verwest.«
»Nein!«
»Was macht Sie so sicher?«
Leitner deutete auf den Körper unter dem Glas. »Weil ich davon ausgehe, dass sie nicht tot ist.«
Beinahe hätte Hellmann gelacht. Er riss sich im letzten Moment zusammen, weil er den Professor nicht düpieren wollte. Etwas musste er schon loswerden.
»Glauben Sie an Märchen?«
»Wieso? Was meinen Sie?«
Er schaute Leitner in die Augen. »Ich denke da an Schneewittchen, die in einem Glassarg lag und dann wieder erwachte, als ihr das Stück Apfel aus dem Mund fiel.«
»Ha, ein Märchen, wie Sie schon sagten.«
»Und was ist das hier?«
Der Professor wischte über seine Oberlippe. »Das hier ist eine Tatsache. Sie können den Arm ausstrecken und den Sarg anfassen. Ist das auch bei Schneewittchen möglich?«
»Nein, aber...«
»Hören Sie auf!«, sagte der Professor gereizt. »Die Grube ist breit genug, sodass sie für uns beide Platz bietet. Wir können uns rechts und links des Sargs aufstellen und einen Versuch starten. Los, es gibt kein Zögern mehr. Denken Sie lieber daran, dass Sie der Zeuge eines unbegreiflichen Phänomens sind. Dass es Kräfte gibt, die stärker sind als der Tod. Diese Frau war – nein, ist eine Zauberin und eine Mystikerin, und sie hat alles in den Schatten gestellt.«
Hellmann fühlte sich nicht wohl. Er war ein Mann, der sich so leicht nicht fürchtete. Als Bergführer war er bekannt. Er war mutig und gehörte auch der Bergwacht an. Den Job hier hatte er übernommen, weil er recht viel Geld einbrachte, und er hatte auch nicht daran geglaubt, dass der Professor Erfolg haben würde.
Das sah er jetzt anders.
Nur froh konnte er darüber nicht sein. Das hier war keine Spukgeschichte, wie man sie sich oft an den langen Winterabenden in den Hütten und Häusern erzählte, hier sah er etwas vor sich, das ihm Furcht einflößte.
»Was ist, Toni?« Ein knappes Lachen folgte. »Wollen Sie mehr Geld? Sagen Sie es. Ich werde mich großzügig erweisen.«
»Unsinn.«
»Dann entscheiden Sie sich.«
»Ich habe mich schon entschieden.«
»Und wie?«
»Ich werde Ihnen helfen, Professor...«
***
Zwei Tage zuvor.
»Ich habe bald keinen Bock mehr«, sagte Sheila Conolly stöhnend. Sie sprach gegen den Rücken ihres Mannes Bill, der vor ihr herging und den Rucksack trug.
»Was ist denn?«
»Ich will eine Pause haben.«
Bill blieb stehen. Er drehte sich um und schaute seine Frau an, die auf dem schmalen Pfad stand, die Hände in die Seiten gestützt hatte und den Kopf schüttelte.
Um sie herum lagen die blühenden Sommerwiesen in diesem Wandergebiet, das von mächtigen Bergen bewacht wurde, als sollte den Menschen gezeigt werden, wie klein sie in Wirklichkeit waren.
Die Conollys hatten sich auf Sheilas Drängen hin seit langer Zeit mal wieder für einen Urlaub in den Bergen entschieden. Die herrliche Luft genießen, sich der Natur hingeben, den Alltag mal vergessen und durch diese wunderbare Umgebung wandern.
Bill konnte seiner Frau keinen Vorwurf machen, denn
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