1739 - Der Tabubrecher
auserwählt wird..."
So erfuhren beide, daß sie nicht allein ausgebildet worden waren. Pi-Poul vermutete, daß dies an seiner angekündigten Berufung zum Hohen Thean lag, denn Rir-Kuum wußte hierüber nichts. Er hatte zudem eine ganz andere Ausbildung durchgemacht, keineswegs so streng und abgeriegelt wie Pi-Poul.
Da beschlich Pi-Poul zum erstenmal der Zweifel, ob an seiner Bestimmung nicht doch etwas dran war. Weshalb sollten sie sich sonst solche Mühe mit seiner Ausbildung geben? Irgendeinen Sinn mußte es haben.
Aber weshalb machte er sich darüber jetzt Gedanken? Er hatte noch nicht einmal die Prüfung zum Anwärter abgelegt.
Rir-Kuum zeigte sich als angenehmer Reisebegleiter, er war heiter und unbeschwert. Er schien sich nicht daran zu stören, daß Pi-Poul die meiste Zeit sehr schweigsam war und nur sehr aufmerksam den Raum beobachtete.
Pi-Poul war so viele Jahre allein gewesen, daß ihm die Gesellschaft anderer zwar nicht unangenehm war, aber er schloß sich ein wenig von diesem Leben aus. Er gehörte nicht mehr dazu. So verwandte er seine Zeit lieber darauf, die alten Lehren mit der Wirklichkeit zu vergleichen und sich darüber Gedanken zu machen.
Ihn interessierte es auch nicht, wohin sie gebracht wurden. Er konnte nur den ihm vorgeschriebenen Weg weiterverfolgen, um festzustellen, ob er tatsächlich berufen war oder nicht. Wie er dorthin gebracht wurde, war ihm gleichgültig. Er hätte sogar das Essen vergessen, wenn Rir-Kuum ihn nicht eindringlich ermahnt hätte.
„Was denkst du, was uns erwarten wird?" fragte Rir-Kuum.
„Ich habe keine Ahnung", antwortete Pi-Poul. Und das war die Wahrheit.
Sein Vetter spekulierte eifrig darüber, durchforstete seine Geschichtskenntnisse und versuchte Hinweise in den alten Lehren zu entdecken.
Pi-Poul machte sich darüber überhaupt keine Gedanken. Das war verschwendete Zeit, die besser genutzt werden konnte.
Schließlich erreichten sie das Ziel. Ein Gleiter brachte sie zur Zentrale des Hauptplaneten. Ihnen wurde weder mitgeteilt, wie dieses System hieß, noch, wie lange sie hierbleiben würden.
Das letzte, woran sich Pi-Poul dann für einige Zeit erinnern konnte, war die Begrüßung durch die sogenannten Spielleiter, die den Prüfungsablauf überwachten. Dann setzte sein Verstand aus.
*
Pi-Poul konnte später rekonstruieren, daß er betäubt worden war, um an den sogenannten Callon, den Netzanzug, angeschlossen werden zu können. Was jedoch ein größerer Schock für ihn gewesen war, war das Erwachen. Die Millionen Stimmen in seinem Kopf. Aus seiner Welt des Schweigens war er in eine Welt des Lärms gestoßen worden. Ohne Vorbereitung, ohne Vorwarnung.
Wahrscheinlich hatte er es nur Rir-Kuums geduldiger Hilfestellung zu verdanken, daß er nicht sofort verrückt wurde. Pi-Poul schrie so lange, bis er vom Netz teilisoliert wurde. Rir-Kuum, der seine Lebensgeschichte in groben Zügen erfahren hatte, setzte den Spielleitern die Situation auseinander.
Daraufhin wurde Pi-Poul behutsam an die Netzverbindung mit allen anderen Prüfungsteilnehmern herangeführt, bis er sich in der Lage fühlte, das Wirrwarr von Millionen Gedanken der anderen zu ertragen. Bald darauf hatte er gelernt, wie er sich selbst abschotten konnte, und damit stand der eigentlichen Prüfung nichts im Wege.
Da es derzeit keine anderen Raunach in diesem System gab, bildeten nur Pi-Poul und Rir-Kuum ein Team. Sie hatten sich bald sehr gut aufeinander eingespielt und ergänzten sich in ihren Fähigkeiten, so daß sie keiner Herausforderung ausweichen mußten.
Zunächst hatten sie den Ablauf des „Spiels", wie es allgemein genannt wurde, aufmerksam beobachtet, ohne sich daran zu beteiligen - bis die erste Herausforderung an sie ergangen war. Das gegnerische Team hatte sich dadurch wohl einen raschen Punktezuwachs erhofft, wenngleich solche Anfänger nicht allzuviel einbrachten.
Pi-Poul und Rir-Kuum zeigten sich der Herausforderung jedoch gewachsen. Nach zähem Ringen einigten sich die Teams schließlich auf Gleichstand und teilten sich die Punkte.
Die beiden Raunach-Vettern fühlten sich dadurch angespornt, sofort weiterzumachen. Ihre jahrelange intensive Ausbildung und Vorbereitung kam ihnen jetzt zugute, obwohl ihnen nie gesagt worden war, was sie erwartete.
Aber die Lehrer der beiden hatten gesagt, daß sie nur in der Bewältigung unerwarteter Ereignisse bestehen konnten. Sie mußten sich stets auf sich selbst besinnen und die Lehren anwenden, aber sich nicht darauf
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