1765 - Der Schattenprinz
der Mauer.«
»Okay.«
»Was sagt dein Gefühl?«, fragte Bill. »Glaubst du, dass man uns schon entdeckt hat?«
»Möglich.«
»Und wo gehen wir rein?«
Wir mussten nicht lange diskutieren. Bill war dafür, dass wir uns trennten. Er wollte sich nach einem weiteren Eingang in der Mauer umsehen. Dahlia und ich entschieden uns für den normalen Weg.
Es wies nichts darauf hin, dass das Kloster bewohnt sein könnte. Alles war ruhig. Verräterische Geräusche gab es nicht, und es waren auch keine Stimmen zu hören, die uns den Weg wiesen. Ich hatte mich noch immer nicht so recht damit abgefunden, dass neben mir eine Frau stand, die zweihundert und mehr Jahre alt war. Deshalb war ich gespannt, wie die Nonnen ihre Rückkehr aufnahmen.
Von Bill sah ich nichts mehr. Dafür konzentrierte ich mich auf das Metallband neben dem Tor, das so etwas wie einen Glockenzug darstellte.
Ich zog daran.
Hinter der Mauer erklang ein ungewöhnliches Geräusch. Man konnte von einem blechernen Gebimmel sprechen, das unsere Ohren erreichte.
»Alles klar?«
Sie nickte, dann fragte sie mich etwas Überraschendes.
»Bist du wirklich nicht Hector de Valois?«
»Nein. Ich bin ein Wiedergeborener, und ich habe Hector auch schon bei einer Zeitreise getroffen.«
»Und wie war das?«
»Wunderbar. Wir haben dieselben Pläne verfolgt.«
»Aha. Du denkst daran, dass auch du meinem Schattenprinz begegnen könntest?«
»Du nicht?«
Sie nickte heftig. »Ja, daran denke ich. Ich würde ihn gern noch mal sehen.«
»Um dann gebissen zu werden?«
Sie wollte etwas erwidern, doch ihr fielen die richtigen Worte nicht ein, und deshalb blieb sie still, auch weil wir ein Kratzen hörten und die Tür spaltbreit geöffnet wurde.
»Ja? Wer will was von uns?«
»Ich, Julia.«
»He, du kennst meinen Namen?«
»Öffne schon. Ich muss mit euch sprechen. Ich bin es doch, Dahlia.«
»Nein, wir haben dich weggebracht und...«
»Aber jetzt bin ich wieder da.«
»Warum?«
»Ich sage es dir gleich.«
»Aber nichts ist mehr so wie sonst. Wir haben Besuch bekommen. Sie sind hier.«
Jetzt bekam ich große Ohren, aber leider wurde nicht mehr gesagt.
»Auch der Schattenprinz?«
»Ihn habe ich nicht gesehen. Aber es sind andere gekommen.«
»Menschen?«
»Ja und nein. Sie sehen aus wie Menschen, aber sie lieben das Blut. Jeder von uns wurde zur Ader gelassen, und dabei sind es keine Vampire.«
»Trinken Sie denn das Blut der Menschen?« Diese Frage hatte ich so leise wie möglich gestellt.
»Ja, das trinken sie.«
»Dann sind es die Halbvampire. Sie sind nicht weniger gefährlich als normale Vampire. Sie sind noch im Werden, denn noch müssen sie auf die Vampirzähne verzichten.«
Ich hatte so laut gesprochen, dass ich gehört werden konnte.
Und ich hatte die Nonne neugierig gemacht, denn jetzt wurde die Tür weiter aufgezogen, sodass die Frau uns sehen konnte. Wobei wir sie auch sahen.
Julia trug ihre Schwesterntracht. Ein Rock, der bis weit über die Knie reichte und dazu ein Oberteil, das kaum den Hals sehen ließ. Das Gesicht hatte eine helle Haut, die tiefe Falten aufwies. Der Mund war kaum zu sehen.
»Lassen Sie uns rein.«
»Ja, ist gut.«
Wir betraten das Kloster. Es kam mir schon hier am Tor alles düster und klamm vor. Wenn wir atmeten, dann saugten wir auch leicht feuchte Luft ein.
Eine kahle graue Wand fiel mir auf. An ihr waren zwei Lampen befestigt. Ihr Licht beleuchtete die beiden Frauen, die sich gegenüberstanden.
»Warum bist du wieder hier?«
Sie deutete auf mich. »Weil er es so wollte.«
»Das ist Unsinn. Ich vermute etwas ganz anderes.«
»Was denn?«
»Dass er hier nach etwas sucht.«
Ich sagte nichts dazu. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als mich um die Besucher zu kümmern. Dass es Halbvampire waren, hatte ich den Worten von Schwester Julia entnommen. Doch dann fragte ich sie direkt. »Nun, war er hier?«
»Wer?«
»Der Schattenprinz, der ein so abgebrühter Blutjäger war.«
Sie senkte den Kopf.
»Also doch.«
»Er hat mir aber nichts getan«, flüsterte Julia.
»Und wer hat dir was getan?«
»Der, der die anderen Wesen angeführt hat.«
»Wesen?«
Sie schaute sich scheu um. »Menschen, um es genau zu sagen. Sie sehen aus wie Menschen, aber es sind keine richtigen mehr. Verstehen Sie das?«
Julia trat näher an die Lampe heran, damit sie besser vom Licht getroffen wurde. Dann senkte sie den Blick und hob den Rock an.
Ich ahnte, was auf mich zukam und hatte mich nicht getäuscht. Der linke Oberschenkel
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