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177 - Im Reich der Hydriten

177 - Im Reich der Hydriten

Titel: 177 - Im Reich der Hydriten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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jungen Jahren war er sich selbst manchmal vorgekommen wie eine Art Gott. Und je älter er wurde, desto hingebungsvoller verehrten sie ihn; und desto unangenehmer wurde ihm ihre Verehrung.
    An jenem Tag, als er seinen neuen Schüler finden sollte, hockte sich der Greis an den Marktbrunnen in den Schatten des Tempels und beobachtete das bunte Treiben auf dem Markt und in den Gassen seiner Stadt.
    Karawanen aus dem Westen mit schwer beladenen Kamelen brachten Kupfer und Bronze. Lange Kolonnen von Eseln trugen Zedernstämme auf den Platz. Sie kamen vom nahen Hafen des Euphrat. Über den Strom verschiffte man das Bauholz vom Norden zu den großen Städten des Zweistromlandes im Süden. An den Pforten des Tempels standen die Priester, nahmen die Abgaben der Händler entgegen und wiesen ihre Schreiber an, die Geschäfte mit angespitztem Schilfrohr auf feuchten Tonplatten zu schreiben. Wahrhaftig – Uruk war eine reiche Stadt zu jener Zeit.
    Sein zerfurchtes, sonnenverbranntes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als er sie die Zeichen in den weichen Ton ritzen sah. Was er ihnen vor so vielen Jahren, als er selbst noch ein junger Mann gewesen war, beigebracht hatte, was die Klügsten unter ihnen damals noch mit Staunen und Verwunderung erfüllt hatte, das übten sie heute mit größter Selbstverständlichkeit aus.
    Und die Händler aus den Ländern des Nordens, des Westens und des Ostens schauten es ihnen ab, und trugen das neue Wissen samt einiger mit keilförmigen Zeichen bedeckten Tonplatten auf ihren Kamelen und Eseln nach Hause.
    Der Alte spürte den Blick des Jungen, ließ es sich aber nicht anmerken. Das kleine braungebrannte Kerlchen mit den dichten schwarzen Locken spielte am Rand der breiten Straße, die sich zwischen den Marktarkaden und dem Tempel vom Westtor bis zum Osttor hinzog. Sein Spielzeug durch den Staub schiebend, krabbelte der Bursche von der Straße und den Karawanen weg und näher zum Brunnen heran. Er mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Der Alte sah sich um. Einen Vater oder eine Mutter konnte er nirgends entdecken.
    Der Junge schob sein Spielzeug nun am Brunnen entlang. Es war ein aus Ton geformter Esel. An Lederbändern, die der Junge am Hals des Tonesels befestigt hatte, hing ein Bündel Schilfrohr. In der Fantasie des Kindes waren es wahrscheinlich Zedernstämme. Der Alte winkte den Knaben zu sich.
    Der gehorchte, als hätte er nur darauf gewartet.
    »Wie heißt du?«
    »Nimrod, Herr.«
    »Wo wohnst du?« Der Junge deutete zum Tempel. »Ist deine Mutter eine Priesterin der Göttin Ischtar?« Der Junge nickte. »Geh und hole mir vier Hölzer«, sagte der Alte. »Zwei so lang, und zwei etwas länger.« Er zeigte die Länge mit Daumen und Zeigefinger der Rechten.
    »Und möglichst gerade. Ich werde deinem Esel ein wenig auf die Sprünge helfen.« Der Junge strahlte und zog ab.
    Der Alte griff unter seinen Umhang und holte vier runde Holzscheiben aus dem Lederbeutel, den er am Gürtel trug, jede etwa so groß wie der Kreis, den man aus Zeigefinger und Daumen formen konnte. Ins Zentrum jeder Scheibe war ein Loch gebohrt. Das hatte der Alte selbst getan. Er legte die Scheiben neben sich auf die Treppe zum Brunnen und wartete. Schon lange trug er sie mit sich herum, jetzt schien ihre Zeit gekommen.
    Der Junge kehrte zurück und brachte gleich neun Hölzer unterschiedlicher Länge; sie waren leidlich gerade. Der Alte suchte die geeignetsten aus, spitzte sie ein wenig an, sodass sie durch die Löcher in den Scheiben passten, und kerbte sie vor den Spitzen so breit und tief ein, dass die Holzscheiben so locker darin sitzen würden, dass sie sich noch drehten konnten.
    »Hier.« Er reichte dem Jungen den Stab. »Verbinde zwei dieser Holzscheiben damit.«
    Während der Alte den zweiten Stab bearbeitete, beobachtete er den Jungen. Rasch kam der auf den nahe liegenden Gedanken, die Enden des Stabes in die Löcher der Scheiben zu stecken. Er betrachtete das Gebilde neugierig, wendete es hin und her und setzte es schließlich auf die Treppenstufe. Dann gab er ihm einen Stoß, und als es losrollte, strahlte er.
    Der Alte lächelte zufrieden. »Willst du noch mehr von mir lernen, Nimrod?« Er reichte dem Jungen den zweiten Stab.
    »Ja, ganz viel solche Sachen.« Nimrod steckte die Scheiben auf den Stab und drehte sie. Sie bewegten sich locker in den Kerben, die der Alte eingeschnitzt hatte.
    »Dann komm zu mir, wenn der Markt vorbei ist.« Der Alte suchte zwei längere Stöckchen heraus. »Hierher an den

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