177 - Im Reich der Hydriten
Mauerwehr. Im Westen berührte die Abendsonne bereits den Horizont. Wie er sie liebte, diese Sonnenuntergänge! Im Meer erlebte man so etwas nicht.
Schon als er noch weiter nördlich in Uruk lebte, hatte er sie genossen. Damals noch von seinem Palast aus. Wie viele Leben war das her? Wie viele tausend Jahre? Er zählte die Jahre nicht mehr. Zahlen, Epochen, Orte, Gesichter – kam es darauf an?
Er drehte sich um und blickte in die Stadt hinein.
Hinter der Nordmauer der Tempelanlage erhob sich die Zikkurat von Ur. Der gewaltige Stufentempel warf einen langen Schatten auf die Stadt. Das Abendlicht lag auf den Spitzen des Palastes. Herrlich anzuschauen waren sie, diese Prachtbauten, diese steinernen Zeugnisse längst vergangenen Ruhmes. Nicht mehr lange, und der geduldige Totengräber, der Wind, würde sie mit Staub zudecken.
Er stieg die Treppe hinunter. Das Tor stand noch offen. Die Wächter saßen über einem Brettspiel. Sie spielten aber nicht mehr, sondern erzählten von den Heldentaten irgendwelcher Könige. Er hasste diese Geschichten von tumben Militärs und ihren Bluttaten, so genannten Siegen. Sie sahen ihn, und der Erzähler unterbrach seine Geschichte.
»Nun, Eli, was hast du dir so vorgestellt?«, fragte der Oberwächter.
»Eine Stunde vor Sonnenaufgang etwa werden die Knechte anfangen, die Schafe und Ziegen hinauszutreiben. Danach kommen die Esel mit den Mägden und dem Hausrat, und bei Sonnenaufgang etwa kommt mein Herr mit den Kamelen und seiner Familie.«
»So, so.« Der Oberwächter schabte sich die Haut unter seinem Bart. »Ich dachte eigentlich an unseren Lohn, als ich fragte, was du dir so vorgestellt hattest, Eli.«
»Ihr nehmt euch zwei Zicklein aus der Ziegenherde und ein Mutterschaf mit seinem Lamm.«
»Nicht schlecht, nicht schlecht.« Der Oberwächter machte eine anerkennende Miene. »Nur ein bisschen wenig. Ist ja kein geringes Opfer, so früh aufzustehen und das Tor zu öffnen.«
»In meinem Haus lasse ich drei Schläuche Bier zurück, für jeden von euch einen. Auch die Tonkrüge dort gehören euch. Das reicht.«
Der Oberwächter sog scharf die Luft ein, und für einen Moment schien es, als wollte er noch weiter feilschen, doch Eli sagte die letzten Worte so energisch, dass er sich zufrieden gab. »Also gut, weil du es bist. Wir werden eine Stunde vor Sonnenaufgang das Tor öffnen und uns zwei Zicklein, ein Mutterschaf mit Lamm und aus deinem Haus drei Schläuche Bier und die Tonkrüge holen.«
»So sei es.«
»Dein Herr ist also bei seinem Entschluss geblieben? Er will Ur tatsächlich verlassen?«
»Das will er.«
Alle drei Wächter schüttelten den Kopf. »Aber warum, Eli, sage mir warum?« In einer Geste der Ratlosigkeit hob der Wächter beide Arme. »Er ist ein angesehener Mann mit einer großen Herde und viel Land. Warum will er uns verlassen?«
»Weil er es so will.«
»Man sagt, ein Gott habe zu ihm gesprochen«, ergriff einer der beiden anderen Wächter das Wort. »Er solle nach Norden ziehen, bis nach Kanaan gar, habe der Gott gesagt. Dort wolle er deinen Herrn reich und mächtig machen.«
»Schon möglich.« Er wandte sich zum Gehen. Das Gerücht gefiel ihm. So viele Jahre schon lehrte er den Mann, für den er arbeitete, und kaum einer, dem sein Einfluss auf den scheinbar Mächtigeren auffiel.
»Warte, Eli!« rief der Oberwächter ihm nach. Er blieb stehen und wandte sich noch einmal um. »Hast du gehört, was Hammurabi mit denen von Mari angestellt hat? Er hat sie sich nackt ausziehen lassen und Eggen über ihre Leiber ziehen und sie vor den Trümmern ihrer großartigen Stadt verbluten und verdursten lassen. Ist er nicht ein gewaltiger König gewesen?«
»Ein Schlächter war er«, sagte Eli scharf.
»Wie redest du?«, ereiferte sich der Oberwächter. »Seit dem starken Nimrod ging kein Jäger und Kämpfer so stark wie er über diese Welt!«
»Nimrod war noch schlimmer als Hammurabi.« Die Erinnerung an seinen anfangs so hoffnungsvollen Schüler Nimrod schnürte ihm das Herz zusammen.
»Wie kannst du es wagen…?« Der Oberwächter sprang auf. »Die Legenden verkünden seinen Ruhm, die Lieder unserer Väter verehren ihn!«
»Ich nicht.« In seiner Kindheit und frühen Jugend hatte Nimrod die Lehren Gilam’eshs aufgesogen wie ein Schwamm, doch kaum zum Manne geworden, brach die Wildheit seines Charakters sich Bahn.
Der Oberwächter baute sich vor ihm auf. »Wieso nicht?« Er schnitt eine grimmige Miene.
»Weil er ein aufbrausender, gewalttätiger Hitzkopf
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