1771 - Im Taumel der Nacht
bleibst.«
Sheila sagte nichts. Sie ließ sich von ihrem Sohn wegführen, der sie aus dem großen Wohnraum schaffte. Er bat seine Mutter, in der Küche sitzen zu bleiben, und machte sich auf den Rückweg. Am liebsten hätte er seine Augen geschlossen, doch das brachte er nicht fertig. Er hielt sie offen und betrat das Wohnzimmer. Er sah die breite Scheibe, seine Hände verkrampften sich zu Fäusten, die Augen weiteten sich, und er machte sich auf etwas Schlimmes gefasst.
Johnny irrte sich.
Es war nichts mehr zu sehen. Johnny konnte es kaum glauben, er hörte sich selbst halblaut lachen und er schüttelte auch den Kopf.
Die Stelle, an der der Nackte gestanden und Stücke aus einem menschlichen Arm gerissen hatte, war leer.
Johnny ging zum Fenster. Seine Knie waren weich geworden. Immer wenn er Atem holte, spürte er einen Druck in der Brust, und er konnte auch ein Zittern nicht unterdrücken. Was er da gesehen hatte, gehörte zu dem Schlimmsten überhaupt.
Oder hatte er es nicht gesehen? Hatte er es sich nur eingebildet? War alles eine Halluzination gewesen? So etwas gab es schließlich, und die andere Seite war in der Lage, alle Kräfte aufzubieten.
Johnny fand darauf keine Antwort. Er trat nahe an das Fenster heran und drückte seine Stirn gegen die Scheibe. Er hörte sich scharf atmen. Alles verschwamm vor seinen Augen, bis er es leid war und die Stirn von der Scheibe wegnahm.
Johnny stellte sich wieder normal hin und hatte kaum diese Haltung eingenommen, als er hinter sich Schritte hörte. Er drehte sich um und blickte seiner Mutter ins Gesicht, in dem noch immer der Schrecken zu lesen war.
»Er – er – ist weg, Ma.«
»Was sagst du?«
»Er ist nicht mehr da.«
»Aha.« Sheila schüttelte den Kopf. Sie war bleich wie ein Bettlaken und Johnny wusste, dass er etwas tun musste.
Er ging zu seiner Mutter, fasste sie an den Ellbogen und schob sie zurück zu einem Sessel.
Sheila war froh, sich setzen zu können. Von unten her schaute sie ihren Sohn an, der auch nicht so recht wusste, was er sagen sollte. Ihm fiel keine Erklärung ein, obwohl ihm vieles durch den Kopf schoss. Aber Sheila war da anders. Sie fasste das zusammen, was sie gesehen hatte, und sprach mit leiser Stimme.
»Er ist jemand, der Menschen – mein Gott, er ist ein Kannibale. Oder hast du das anders gesehen?«
»Nein.«
»Und wo kommt er her? Oder wo kann er herkommen?«
»Ich habe keine Ahnung, ich weiß es nicht.« Johnny senkte den Kopf. »Es ist grauenhaft, wirklich. So etwas haben wir noch nie erlebt in all den Jahren.«
Sheila nickte. »Und was tun wir? Was können wir unternehmen? Ich weiß es nicht. Wo ist er denn? Und dann frage ich mich, ob er allein ist oder ob es noch mehr von denen gibt. Möglich ist alles. Wir müssen damit rechnen.«
Johnny nickte.
»Und im Garten gibt es zwei Tote«, sagte Sheila und stöhnte auf. »Menschen, die unschuldig sind und gar nichts mit unseren Problemen zu tun haben. Wobei einer der Toten einen Arm verloren hat.« Sie schüttelte den Kopf und konnte es nicht fassen. »Himmel, was können wir denn noch tun?«
»Ich habe keine Ahnung, Ma.«
»Wir müssen telefonieren«, flüsterte sie. »Dein Vater und John müssen Bescheid wissen.«
»Das meine ich auch.«
»Übernimmst du das?«
»Ja.« Johnny nickte. »Aber zuvor möchte ich mich umschauen, ob ich nicht noch einen von diesen Widerlingen sehe.«
»Ja, das ist okay.« Sheila hob den Blick an. »Ich denke schon, dass wir alle Fenster geschlossen haben.«
»Keine Sorge, haben wir.«
»Das ist gut.«
Johnny ging noch mal dicht an das Fenster heran und schaute in den Garten. Jeden Winkel durchsuchte er, um zu sehen, ob sich noch eine weitere Spur ergab.
Er sah nichts von dem Nackten und berichtete das auch seiner Mutter, die sich wieder gefangen hatte. Zwar ging es ihr noch nicht top, aber besser als vor wenigen Minuten. Sie stand mit einem Ruck auf und erklärte, dass sie vorn nachschauen wollte. Aber sie würde das Haus nicht verlassen.
»Außerdem können wir Johns Kollegen nicht anrufen, damit die Leichen abgeholt werden. Da müssten wir was erklären. Wenn die einen Toten ohne Arm sehen, wird man sich wundern und viele Fragen stellen.«
»Das ist wohl wahr.«
Beide standen jetzt an der vorderen Seite des Hauses. Der große Vorgarten mit der Zufahrt lag vor ihnen. Ihr Blick reichte bis zum Zaun, aber das Bild hatte sich nicht geändert. Noch immer stand der Wagen dort, aber Bewegungen gab es nicht. Das Gelände lag dort wie
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