1774 - Ranjas Rudel
nicht sah. Entdecken konnte sie nichts. Keiner lauerte in der Nähe oder verließ plötzlich seine Deckung, um sie anzugreifen, und so erreichte sie eine Stelle, die für eine Beobachtung ideal war.
Sie konnte sich in eine Lücke zwischen zwei Bäumen drücken und hatte freie Sicht auf die Vorderseite des Hauses. Genau da spielte sich das Geschehen wie auf einer Freilichtbühne ab.
Sinclair kniete auf dem Boden. Er hatte die Hände in den Nacken gelegt. Diese Haltung war eine einzige Demütigung, und die Frau, die mit gezogener Waffe vor ihm stand, genoss die Situation. Das war ihrem Gesicht anzusehen.
Sinclair tat nichts. Was hätte er auch unternehmen sollen? Er befand sich in einer aussichtslosen Lage, und das Weib schien nur darauf zu warten, ihm das Leben zu nehmen.
Warum schoss sie ihm noch keine Kugel durch den Kopf? Diese Frage bedrängte die Frau, die plötzlich wusste, dass es auf sie ankam. Sie war nicht hier, um nur zuzuschauen, nein, sie musste eingreifen, und das, bevor es zu spät war und John Sinclair erschossen wurde.
Das tat die gefährliche Frau noch nicht. Aber ihr Finger lag am Abzug. Wenn Sinclair sich bewegte, war es um ihn geschehen.
Kate Milton zog sich etwas zurück. Dabei bemühte sie sich, keinen Laut zu verursachen. Nichts sollte dieses mörderische Weib warnen. Kate stellte sich hinter einen Baum, der ihr Schutz gab. Der Gedanke war ihr schon zuvor durch den Kopf gehuscht, jetzt wollte sie ihn in die Tat umsetzen, und deshalb senkte sie den Kopf und suchte auf dem Boden nach etwas Passendem.
Sie brauchte einen Stein!
Einen handlichen und auch nicht zu schweren Stein, den sie als Waffe einsetzen konnte. Eine andere Alternative sah sie nicht. Wenn sie es schaffte, den Stein richtig einzusetzen, dann konnte sie John Sinclair vielleicht retten.
Aber wo finden?
Kate fand keinen Stein, aber ihre tastenden Finger berührten etwas anderes. Fügung, Schicksal oder was immer es sein mochte, plötzlich umklammerte ihre Hand einen Ast, der nicht sehr lang, dafür aber recht kompakt war.
Ein Wurfgeschoss?
Kate Milton zog den Ast behutsam zu sich heran, bevor sie sich mit ihm in der Hand erhob.
Ihr Plan stand längst fest. Der Ast musste ihr als Wurfgeschoss dienen. Und sie musste dabei ihr Bestes geben und dafür sorgen, dass sie den Kopf der Frau traf. Und auch hart genug, um sie außer Gefecht zu setzen.
Die Umgebung kam ihr vor wie eine dunkle Bühne, an deren Rand sie sich aufhielt. Es gab keinen Lichtschein, der sich auf dieser Bühne verteilt hätte. Von oben her erreichte sie auch nichts, da hielt sich der Mond hinter Wolken verborgen.
Aber Kate Milton wusste auch, dass er voll war, und ein Vollmond war immer etwas Besonderes.
Sie hörte die beiden so unterschiedlichen Menschen miteinander reden, was ihr sehr recht war, denn so bekam sie die Zeit, sich zu bewegen. Sie wollte sich für ihre Aktion die beste Position aussuchen. Wichtig war, dass sie sich dabei im Rücken der Frau aufhielt und diese nicht doch eine Bewegung wahrnahm.
Sie schlich vorsichtig voran. Ab und zu dachte sie auch an die Wölfe und hoffte stark, dass sich die Tiere zurückhalten würden.
Sie schaffte es, sich so zu postieren, dass sie den Rücken der Frau vor sich sah. Besser konnte sie es nicht haben. Jetzt musste sie nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten...
***
Ich kam aus meiner demütigenden Position nicht weg. Nach wie vor kniete ich auf dem Boden. Allmählich taten mir die Knie weh.
Ranja wartete auf ihre Wölfe.
Aber wer war sie? Diese Frage beschäftigte mich. Ich sah in ihr etwas Besonderes und wollte eine Antwort darauf haben. Die erhielt ich nicht, wenn ich keine Frage stellte.
»Wer bist du wirklich?«, fragte ich. »Jetzt sag nicht, dass du Ranja heißt und...«
»Was willst du dann wissen?«
»Woher du kommst.«
»Das habe ich dir auch schon gesagt. Ich komme aus Sibirien. Ich bin von dort weggelaufen.«
»Hat man dich vertrieben?«
»Nein, ich wollte es.«
»Und warum?«
»Ich wollte dorthin, wo es mehr Menschen gibt. Trotz einiger großer Städte ist mir Russland zu einsam. Deine Sprache habe ich schon in meiner Heimat gelernt. Ich konnte mich also behaupten, und das habe ich getan.«
»Ja, das sehe ich. Ich frage mich nur, was dich an den Wölfen so fasziniert.«
»Sie sind meine Freunde.«
»Okay. Und weiter?«
»Ich habe mit ihnen gelebt. Ich habe sie studiert. Ich bin ihre Freundin. Sie haben mich akzeptiert, denn ich bin eine von ihnen. Ich fühle mich als eine
Weitere Kostenlose Bücher