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18 - Orangen und Datteln

18 - Orangen und Datteln

Titel: 18 - Orangen und Datteln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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noch nicht reden konnte? Ich lauschte weiter. Mir wurde ganz eigentümlich zu Mute; der Atem und der Puls wollte mir stillstehen.
    „Was tut das Kind?“ fragte ich leise.
    „Es betet“, antwortete der Hamsa Mertal, „denn es geht schlafen.“
    „Was betet es?“
    „Das Gebet des Vaters meines Weibes.“
    „Wo ist er? Wo lebt er?“
    „Er ist tot.“
    „War er ein Moslem?“
    „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gekannt.“
    „Verzeihe mir! Wo nahmst du dein Weib?“
    „Ich nahm sie mit, als wir bei den Abu Salman-Arabern einfielen.“
    „Darf ich sie fragen?“ bat ich, als in diesem Augenblick Schefaka wieder hinter dem Schirm hervortrat.
    „Frage sie!“
    „Sage mir, Morgenröte, was dein Liebling jetzt gebetet hat!“
    „Das Gebet, welches mein Vater mich lehrte“, antwortete sie errötend.
    „Wie lautet es?“
    „Es ist ein fremde Sprache, welche ich nicht kenne. Du wirst sie auch nicht verstehen.“
    „Oh, sage nur das Gebet! Schnell, schnell!“
    Sie faltete die Hände, senkte verwirrt die Augen und rezitierte, wenn auch mit fremder Betonung und fehlerhaft, aber für einen Deutschen immerhin verständlich:
    „Christi Blut und Gerechtigkeit
Ist mein Schmuck und Ehrenkleid.
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wann ich in den Himmel werd' eingehn.
Amen!“
    Ich war aufgesprungen und hatte, ebenso wie sie, die Hände gefaltet. Ich schäme mich nicht, es zu gestehen, daß mir die Tränen über die Wangen liefen und in großen Tropfen vom Bart fielen. Hier in den wilden Bergen Kurdistans, mitten in einer fanatisch-moslemischen Bevölkerung vernahm ich das erste Gebet meiner Kindheit, und zwar in meiner Muttersprache! Ich weiß nicht mehr, was ich in den nächsten Augenblicken getan und gesprochen habe; ich weiß nur, daß selbst die beiden Kurden voller Rührung waren und daß Halef Omar und der Dscheside am Eingang standen und verwundert unserer Unterredung lauschten.
    „Wer war dein Vater?“ fragte ich endlich die Morgenröte.
    „Er starb, als ich ein kleines Mädchen war und eben dieses Gebet von ihm gelernt hatte; aber der Vater meiner Mutter hat mir von ihm erzählt. Er war aus einer sehr fernen Stadt, welche Prenis heißt, mit anderen nach Stambul gekommen, um mit ihnen die Kamantsche (Violine) zu spielen. Allah war ihnen nicht gnädig, und er ging mit einem Inglis nach Salem, Halep und Mossul. Der Inglis verließ ihn, und er blieb. Er wurde Dschenkdschi (Soldat) des Mutessarif, und als er gegen die Abu Salman kämpfen sollte, nahmen diese ihn gefangen. Er blieb bei ihnen, und die Tochter meines Großvaters wurde sein Weib. Weiter weiß ich nichts.“
    „Schefaka, dein Vater war aus meinem Land. Ich war sehr oft in der Stadt, aus welcher er kam. Du nennst sie Prenis, aber sie wird dort Preßnitz genannt, und viele Männer und Frauen, viele Burschen und Mädchen gehen von dort hinaus in fremde Lande, um zu singen und allerlei Instrumente zu spielen.“
    „Allah akbar, Gott ist groß!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Du hast die Stadt meines Vaters gesehen? Ist's möglich? Du sprichst die Sprache meines Gebetes? Oh, vielleicht kannst du auch meinen Talisman lesen?“
    „Welchen?“
    „Der Vater meiner Mutter gab ihn mir; er ist das einzige, was mein Vater von seinem Land und seinem Volk noch besessen hat. Es sind Linien und Punkte darauf und eine Schrift, die niemand lesen kann.“
    „Zeige mir ihn!“
    Sie trat hinter die spanische Wand zurück. Jedenfalls trug sie den ‚Talisman‘ auf ihrem Herzen. Als sie wieder hervortrat, überreichte sie mir ein Notenblatt, welches vielfach zusammengeschlagen und in ein viereckiges Stück Schafleder gefaltet war. Ich öffnete es und fand – das ‚Ännchen von Tharau‘, in D-Dur arrangiert für gemischtes Soloquartett. So viel ich suchte, es war keine Unterschrift, kein Name zu finden.
    „Schefaka, diesen Talisman kann ich lesen; er ist in meiner Muttersprache geschrieben. Aber er muß nicht gesprochen, sondern gesungen werden. Soll ich ihn dir vorsingen?“
    „Effendi, wenn du das wirklich tun wolltest?“
    „So höre!“
    Ich sang ihr alle Verse dieses Liedes vor. Ich habe nie so gern und mit solcher Hingebung gesungen als jenes einfache Lied in dem Jilak Scheri Schirs. Als ich geendet hatte, stand die ganze andere Abteilung des Hauses und auch der Platz vor demselben voller Menschen. Niemand wagte, ein Wort zu sagen. Die Macht des deutschen Liedes hatte die rauhen Seelen der Kurden ergriffen, obgleich sie den Text nicht

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