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anhielt. Ich stieg aus und stand vor ihr und sah eine Kaffeetasse, die neben ihr auf der Bank stand.
„Vous etes ici, äh, tout le jour?“, fragte ich aufs Geratewohl.
„Ja“, antwortete sie mit einem leichten Akzent. Auf Deutsch.
„Ach so“, sagte ich.
„Ich habe ein Semester in Deutschland Psychologie studiert“, sagte sie.
„Ach so“, sagte ich wieder und dann: „Eine Nacht würde ich bleiben.“ Sie erhob sich träge und verschwand in ihrem Häuschen, schob eine Glaswand beiseite und fragte dann: „Hast du ein Zelt?“
„Nein“, sagte ich.
„Warum gehst du dann auf einen Campingplatz?“, fragte sie.
„Duschen und Waschen“, antwortete ich.
„Also der Platz für Camping hier macht vingt-cinq Franc pro Nacht, und ich finde, das ist viel, und vielleicht solltest du dich nur waschen und dann woanders übernachten.“
„Dir gehört der Campingplatz nicht, oder?“, fragte ich.
„Nein, ich bekomme seize Franc die Stunde.“ Das war nicht gerade viel. Ich holte hundert Mark aus meinem Portemonnaie und fragte sie, ob sie mir das Geld in Franc tauschen könnte. Ich schlug ihr einen vorteilhaften Kurs vor, so dass sie es nicht bereuen würde, wenn sie am Montag zur Bank gehen würde. Sie willigte ein.
„Fahr deinen Wagen etwas zur Seite“, sagte sie, und ich tat es. Sie zeigte mir noch, wo die Duschen waren.
Ich nahm eine Decke und die Handschuhfachseife, fand die Duschen, zog mich aus und wartete, bis die Dusche heiß wurde, dann stellte ich mich darunter und schrubbte mich mit den Händen, so gut es eben ging, spülte meinen Mund, meine Haare und trocknete mich mit der Decke ab. Ich fühlte mich besser. Ich kämmte mir mit den Fingern die Haare und erschien wieder an der Pforte.
Sie las in ihrem Buch. Ich legte die Decke ins Auto, ging zu dem Getränkeautomaten und zog zwei weitere Büchsen Coca-Cola. Ich setzte mich neben sie auf die Bank. Sie legte ihr Buch zur Seite. Ich öffnete ihr eine Büchse und hielt sie ihr hin. „Eine Einladung“, sagte ich. „Pour les plus belles dusches de la world“. Wir lachten und stießen an.
„Du hast einen Traumjob gefunden“, sagte ich.
„Ende Oktober ist Schluss. Dann schließt der Campingplatz.“
„Und dann?“
„Wer weiß?“
„Findest du das in Ordnung?“
„Ja es ist ok. Was du nicht weißt: Ich bekomme in fünf Monaten ein Kind, und das Kind wird nicht weiß sein, denn Housak kommt aus Algerien, und dort sind die Leute seltener weiß. Und es ist nicht ganz gewöhnlich, in Le Touquet einen Afrikaner auf die Welt zu bringen. Die Leute reden darüber, das ist auch ok. Und es ist das Beste für mich und das Kind, wenn ich hier diesen Job habe und auf einer Bank sitzen kann.“
„Wo ist Housak?“
„In Algerien. Arbeiten.“
„Kommt er bald wieder?“
„Wahrscheinlich. Sie werden ihn lassen müssen, wenn er will.“
Wir schwiegen. Das Problem lag etwas jenseits aller Probleme, die ich in meinem Leben vor mir gesehen hatte. Es war sozusagen neu.
„Ein neues Problem für mich“, sagte ich.
„Für mich auch“, antwortete sie. „Ich heiße Janine.“
„Housak und Janine. Ich heiße Semme.“ Wir gaben uns ganz automatisch die Hand. Das hier war etwas anderes als eine Nacht auf der Ladefläche meines Autos und etwas anderes als ein Garagendachgespräch. Das hier war das Ende der Jugend, und sie wusste es und saß den ganzen Tag auf einer Bank und hoffte, dass der Vater aus Algerien zurückkam. Vielleicht wusste sie nicht mal, wo und wie er dort lebte, oder ob er noch lebte. „Wie fühlst du dich?“, fragte ich.
„Wie eine schwangere Frau. Manchmal wird mir übel, und manchmal klopft es und ich werde immer dicker.“
„Willst du hierbleiben nach der Geburt?“
„Ja.“
„Warum?“
„Meine Eltern leben hier, ich bin hier aufgewachsen, und hier ist der einzige Ort auf der ganzen Welt, wo ich es schaffen kann.“ Sie hatte wohl Recht.
„Was machst du in deiner freien Zeit?“, fragte sie.
„In meiner freien Zeit?“ Ich hatte nie über so was nachgedacht. „Ich mache nicht viel.“
„Das ist gut.“
„Gut?“
„Ja, ich denke, dass es gut ist, nicht so viel zu tun. Das sagt Housak immer. Nicht so viel tun und abwarten und sich ausruhen. Das hat mir immer eingeleuchtet.“
„Mir auch. Doch scheinbar war ich immer der Einzige.“
„Du und Housak und ich“, sagte sie.
„Meine Eltern haben mir gestern gesagt, dass sie in den Süden möchten, und eine zeitlang wegziehen wollen. Nicht ich ziehe
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