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ihr. Ich bekomme immer wahnsinnig schnell Mitleid mit den Menschen. Sie hatte unmögliche Eltern, die ihr verboten, andersgeschlechtliche Personen mit aufs Zimmer zu nehmen. Als ich sie mal besucht hatte, hatten wir mit den Eltern über eine Stunde Tatort schauen müssen, und dann hatte der Vater mich gefragt, ob ich nicht auch müde wäre und nach Hause wollte, und ich war tatsächlich müde gewesen. Wenn sie mich besuchte, musste ich mich immer mit „Café Edelweiß“ melden, weil sie ihrem Vater sagte, dass sie in diesem Café wäre. Und für Notfälle musste sie noch eine Telefonnummer hinterlassen. Ich glaube, sie war sechszehn oder siebzehn.
„Nun ja“, wand sie sich. Ich trank mein Bier aus.
„Schön, du kannst mit Jochen den ganzen Abend im Café Edelweiß bleiben. Aber keine Sauereien, verstanden?“ Sie würde früh genug merken, dass sie den Abend nicht mit Jochen allein verbringen würde.
„Nein, natürlich nicht.“ Dann küsste sie mich leicht auf die Stirn, und ich schöpfte neue Hoffnung, dass mein VW-Bus doch noch von der Polizei gefunden würde.
17 Uhr
Punkt 17 Uhr kam Jochen. Er schien eine Weile durchs Treppenhaus geirrt zu sein und sich wegen der überall fehlenden Namensschilder aufgeregt zu haben, doch schließlich fand er die offene Tür.
„Die Tür war offen“, war das erste, was er sagte. Ich schätzte solche Korrektheit. Er war ziemlich groß und dünn, und ich fand ihn pickelig, obwohl er gar nicht richtig pickelig war, aber es hätte zu ihm gepasst. Er war näher an Mollis Alter als ich. Zum Glück kam Bauer gerade vorbei, ich schnappte ihn mir und legte eine Schmusestunde mit ihm ein, was er ganz gut fand. Bauer, nicht Jochen.
Jochen stand verpickelt in meinem Türrahmen und Molli schwebte auf ihn zu, was ich aus den äußersten Augenwinkeln erkennen konnte, während ich Bauer streichelte und liebkoste. Dann küsste sie ihren Jochen leicht auf den Mund.
„Ich hatte gesagt: keine Sauereien“, knurrte ich.
Molli drehte sich um, zeigte auf mich und bemerkte: „Das ist Patrick.“
„Pat“, korrigierte ich.
„Pat“, sagte sie.
Jochen kam durch den Raum auf mich zu und gab mir die Hand. Ich gab ihm auch die Hand. Im Sitzen ist das nicht gerade toll, aber wenn einer so korrekt ist, sich über fehlende Namensschilder aufzuregen, dann gibt man ihm auch mal die Hand.
„Willst du was trinken?“, fragte ich.
„Tja“, sagte er, und ich sagte zu Molli, dass sie ihm doch ein Bier holen könnte, und dass ich auch noch ein Kleines vertragen würde zur Feier des Tages. Molli ging in die Küche.
„Ich habe schon viel von dir gehört“, begann er.
„Ja, ich von dir auch“ erwiderte ich.
„Was denn?“
„Du sammelst keine Außenspiegel, in denen man sich rasieren kann, und du nimmst keine frierenden kleinen Mädchen an Haltestellen mit, die sich in dich verlieben, dies jedoch nicht zugeben wollen.“
„Hör nicht auf ihn!“, rief Molli aus der Küche.
„Das ist ein lockeres Haus hier“, sagte er. „Niemand scheint ein Namensschild an der Tür zu haben. Und deine Tür ist sogar offen.“
„Warte erst mal, bis du einen Blick in den Innenhof geworfen hast. Das lockerste Grünbiotop im lockersten Haus, das du je gesehen hast. Der Hof hat letztes Jahr in der Zeitschrift 'Schöner Dröhnen' den zweiten Platz in der Kategorie 'Mosaik aus Kronkorken selbst gemacht' bekommen.“
Er schaute unsicher. „Kann ich mal deine Toilette benutzen?“, fragte er dann. Das war eine coole und vorausschauende Entgegnung, denn auf das Thema wäre ich als nächstes zu sprechen gekommen. Ich nickte, zeigte auf eine Tür im Flur, und er verzog sich.
„Er sieht ja richtig knackig aus“, rief ich zu Molli hinüber. Weiß der Teufel, was sie so lange in der Küche machte. Doch sie antwortete nicht. Ich streichelte Bauer.
Jochen kam wieder und ich fragte ihn, wie ihm die Gedichte auf der Toilette gefallen hätten. Ich hatte einige Gedichte von Richard Brautigan an die Wand geschrieben und einige von mir. Ich fragte alle Toilettenbesucher, welches Gedicht ihnen besonders gut gefallen hätte, und wenn es eins von mir war, erfüllte das mich mit Stolz.
„ZUHÖREN
Der Camembert
ist haltbar
bis 14.6.
Warum hatte ihm
das
niemand gesagt?“
Ich zitierte es aus dem Kopf. Ich war schon dermaßen oft auf dem Klo gewesen, dass ich die Gedichte auswendig kannte.
„Sehr schön“, sagte er.
„Hör auf mit den Sachen“, nörgelte Molli wieder. Anfangs hatte ich auch das Gedicht
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