180 - Die Enkel der Astronauten
den Dom.
Auch dieses Erlebnis erzählte sie Sean. Und alles, was sie über den Uluru erfahren hatte. Bernstein schüttelte nur den Kopf. »Meine Güte, Marsha – die Menschen brauchen etwas, an dem sie sich festhalten können. Glaubst du wirklich, Adam will dich und das Kind als Menschenopfer zum Uluru bringen?« Sean wollte nichts mehr davon hören.
Die nächste Wehe war so heftig, dass Marsha glaubte, sie würde ihr das Becken sprengen. Ein tiefer Laut entwich ihrer Kehle, während sie den Atem herausdrückte.
Plötzlich entdeckte sie Adam. Er stand in einer Nische der Höhle und beobachtete sie. Marsha vergaß das Atmen und den Schmerz. Panik erfasste sie. Sie öffnete den Mund, um nach Sean zu rufen. Aber ein Hustenanfall erstickte ihren Schrei. Sie versuchte sich aufzurichten. »Lass mich in Ruhe!«, keuchte sie. Ihre braunen Augen funkelten den Schamanen wütend an.
»Atme durch die Nase!« Joan hielt Marsha ein Tuch vor das Gesicht. Es roch nach Eukalyptus. Etwas berührte ihre Gedanken, nicht Adam, nein, es war der Schrei eines hilflosen Wesens, das Angst hatte, das aus der Enge ins Leben wollte. Es war ihr Kind! Ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Eine Wehe nach der anderen überrollte jetzt ihren Leib. Sie hechelte, schrie und presste.
»Gut, Marsha! Nach unten pressen! Noch einmal!« Joan zog ein zappelndes kleines Wesen zwischen Marshas Beinen hervor. »Es ist ein Mädchen!« Sie strahlte Marsha an. »Du hast es geschafft.«
Marsha lächelte erschöpft. Tränen rollten über ihre Wangen. Dabei ließ sie Adam nicht aus den Augen. Er stand inzwischen bei Joan, die das Kind wusch und in ein warmes Tuch wickelte. Ihre Bewegungen wirkten verkrampft und ihre Stimme hörte sich blechern an, als sie Inga aufforderte, den Kinderarzt zu holen.
Irgendetwas stimmte nicht.
»Was ist los, Joan?«, fragte Marsha besorgt. Die eintretende Stille lastete schwer im Raum. »Es schreit nicht!«, flüsterte Marsha. Sie sah, wie Adam das Kind nahm.
»Gib mir mein Kind!« Ihre Stimme überschlug sich.
Hinter ihr riss jemand die Tür auf. »Wo ist meine Tochter?« Sean eilte zu Marshas Bett. »Ich habe es schon von Inga gehört!« Er bedeckte Marshas Gesicht mit Küssen. »Es tut mir so Leid, dass ich es nicht rechtzeitig geschafft habe!« Dann ging er zu Adam und nahm ihm das Bündel aus dem Arm. Glücklich betrachtete er seine Tochter. »Du bist fast so schön wie deine Mutter, kleine Naomi.« Er schaute kurz auf und bemerkte die betretenen Gesichter von Joan und Adam. »Ist was nicht in Ordnung?«
»Sie ist stumm!« Während Adam antwortete, behielt er Marsha fest im Blick. Ihr Ananguname lautet ›Ohr des Ahnen‹! Und du wirst seine Stimme sein!
***
Red Toad, Australien, Dezember 2012
Es war eine offene Ratsversammlung, der große Felsendom war brechend voll. Die Menschen standen oder saßen auf mitgebrachten Decken und Kissen. Vor dem Eingang zum Labyrinth nahmen die Ratsältesten ihre Plätze ein. Neben den Stammesführern der Anangu gehörten Adam, Carlos, Joan und Victoria Swaff zu ihnen.
Es wurde still, als Victoria Swaff aufstand. Sie stellte die neue Verfassung vor, die das Zusammenleben in Red Toad regeln sollte. Unter anderem wurde darin bestimmt, die Rituale der Anangu verbindlich einzuführen und Englisch als Grundsprache zu unterrichten.
Eine Ordnungsgruppe wurde gegründet, deren erste Aufgabe es war, sämtliche Waffen in Red Toad einzusammeln. Dieser Punkt sorgte für Unruhe.
Besonders unter den Leuten, die erst nach dem Einschlag des Kometen in die Stadt gekommen waren.
Bob Frost erhob sich. Am Tag von Naomis Geburt war er mit einigen Männern und etwa fünfzig Frauen und Kindern von einem Suchtrupp in die unterirdische Stadt gebracht worden. Der untersetzte Mann mit den blonden Haaren räusperte sich. »Der Norden Australiens existiert nicht mehr. Was das Feuer des Kometen nicht gefressen hat, holte sich das Meer mit gigantischen Flutwellen. Wir mussten mit ansehen, wie die Hälfte unserer Gruppe ertrank oder von Geröllmassen verschüttet wurde. Auf dem Weg hierher kamen wir durch zerstörte Städte und Dörfer. Aber schlimmer noch als ›Christopher-Floyd‹ wüteten die Überlebenden.« Als ob er die Erinnerung wegwischen wollte, fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. »Einige Frauen und Kinder stießen unterwegs zu uns. Sie erzählten, wie man ihre Männer und Väter erschlagen und sie aus den Ruinen ihrer Häuser vertrieben hatte. In manchen Dörfern wurden alle Mischlinge
Weitere Kostenlose Bücher