181 - Der ewige Turm
Jungfrauen im Jahr. Und zwei Stämme verweigern den Tribut.« Charlondo machte eine Geste des Bedauerns, als schämte er sich, dass sein Stamm nicht zu den Verweigerern gehörte. »Jedenfalls bezahlen sie unregelmäßig. Reezar hat gedroht, sie auszurotten.«
»Reezar?«
»Der Kometenfürst«, sagte Charlondo leise. »So nennen sich die Obersten der Turmherrenrotte von alters her.«
Seine Gesichtszüge wurden plötzlich hart, blanker Hass stand in seinen Augen. Er senkte den Blick. Eine Zeitlang schwiegen sie. Rulfan sah zu seinen Gefährten: Sulbar machte ein grimmiges Gesicht, Halil kaute auf seiner Unterlippe herum. Chira stieß ihm ihre Schnauze gegen den Hals. Es war, als spürte sie seine wachsende Wut.
Irgendwann standen Honbur und Charlondo auf und ließen die drei Männer und den Lupa am Bug allein.
***
Es waren Tage der Angst. Die Familien der neun Mädchen, die in diesem Jahr das Los ziehen mussten, taten alles, um die Götter günstig zu stimmen, die bösen Geister zu beschwichtigen oder die Schicksalsmächte zu beeinflussen.
Auch Eynaya, die Mutter der Zwillinge. Sie opferte zwei schwarze Enten und einen der beiden Erpel, die zum bescheidenen Besitz der Sippe gehörten.
An jedem Morgen verbrannte sie wohlriechende Kräuter über den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern.
Außerdem scherte sie sich das Haupthaar, fastete tagsüber und zwang die gesamte Sippe, das Gleiche zu tun; mit Ausnahme der Zwillinge natürlich.
Die Sippen, deren Töchter ebenfalls zur Auslosung ausgesucht wurden, beneideten sie. »Du hast zwei Töchter«, sagten die Mütter. »Zwei, verstehst du?« Die meisten hoben Mittel- und Zeigefinger der Rechten, während sie das sagten, und schnitten vorwurfsvolle Mienen. »Selbst wenn eine der beiden das Los trifft, bleibt dir doch die zweite, und bis zum nächsten Schutzpfand kannst du sie verheiraten und auf diese Weise retten.«
»Was wisst ihr schon?«, antwortete Eynaya dann meistens. »Sayona und Ballaya sind Zwillinge. Wenn eine der beiden das Los zieht, wird es der anderen das Herz brechen, und ich werde zwei Töchter verlieren.«
Manche Mädchen verstümmelten sich, schnitten sich ein Ohr oder die Nase ab, entstellten ihr Gesicht durch Schnitt- oder Brandwunden oder schlugen sich die Zähne aus. Alles in der verzweifelten Hoffnung, die Turmrotten würden verstümmelte oder entstellte Frauen verschmähen. »Wie dumm«, sagte Sayona zu Ballaya.
»Wissen sie denn nicht, dass Reezar und seine Räuber diejenigen erst recht verachten, die solches tun?«
»Sie vergrößern nur die Qualen, die ihnen bevorstehen«, sagte Ballaya finster. »Und sie verkürzen ihr Leben, falls sie ausgelost werden.«
Es war eine entsetzliche Zeit, dieses Warten.
Jeden Morgen nach dem Aufwachen liefen Sayona und Ballaya zu den Gemeinschaftsräumen der Fischer und Jäger, um zu schauen, ob ihre Brüder, ihr Vater und ihre Geliebten in der Nacht zurückgekehrt waren. Und als sie auf den Lagern zwischen den Decken und Fellen keines der vertrauten Gesichter entdeckten, liefen sie zum Eingang der Moscherune und spähten die Waldpfade und Gassen hinunter. Doch keiner der Ersehnten ließ sich blicken.
Irgendwann vermochte Sayona sich nicht mehr vorzustellen, dass die Tage nach der Auslosung – falls das Los sie erwischen sollte – schrecklicher sein konnten als diese bleiernen Tage des Wartens.
Als dann endlich der Abend der Entscheidung kam, war sie fast erleichtert. Ja, sie begrüßte ihn als einen Tag der Erlösung, denn er würde Gewissheit bringen – für acht Mädchen die Gewissheit, bei ihren Sippen bleiben, heiraten und vielleicht in Frieden alt werden zu dürfen, und für eines die Gewissheit, in die Hölle zu müssen.
Die Auslosung fand wie immer in der Moscherunenhalle statt. Vor den bunten Fenstern war es noch dunkel. Regen klatschte auf das Laubdach der Bäume, die rund um die Moscherune wuchsen. Der gesamte Stamm hatte sich zwischen den Säulen versammelt. Boten hatten sämtliche Jäger benachrichtigt, die in den Ruinen Ka'Els auf Streifzug gewesen waren.
Alle waren anwesend an jenem Morgen – alle außer den Männern, die mit Sayonas und Ballayas Vater Ruulay zum Fischen auf das Meer hinaus gefahren waren.
Die Zwillinge waren traurig, weil ihr Vater und ihre Brüder und vor allem ihre zukünftigen Männer an diesem schicksalhaften Tag nicht bei ihnen sein konnten.
Zugleich machten sie sich Sorgen um die Fischer. Sie wären nicht die ersten gewesen, denen das Meer zum Grab
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