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181 - Der ewige Turm

181 - Der ewige Turm

Titel: 181 - Der ewige Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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wurde.
    Wie die anderen sieben Mädchen, die das Los ziehen mussten, trugen auch Sayona und Ballaya schwarze Gewänder an diesem Morgen. Ihre Köpfe und Gesichter hatten alle jungen Frauen verschleiert. Erst kurz bevor sie mit den anderen die Moscherunenhalle betraten, ließ Sayona die Hand ihrer Zwillingsschwester los. Niemand konnte nun die Jungfrauen noch voneinander unterscheiden.
    Ein leiser Singsang erfüllte die Halle. An den Wänden und Säulen brannten Fackeln. Männer, Frauen und Kinder hatten sich in einem Halbkreis um den Lostisch in der Mitte der Halle aufgestellt. Auf dem Tisch, einem Steinquader, stand der schwarze Krug mit den Losen.
    Der Scheiko und die Älteste der Frauen warteten dort.
    Die neun Mädchen stellten sich in einen Kreis um den Scheiko, die Älteste und den Stein mit dem Loskrug. Der Singsang des Stammes schwoll an. Hier und da sprach jemand ein Gebet. Schließlich erhob der Scheiko seine Stimme. Die Arme zur Hallendecke erhoben, stimmte er einen klagenden Gesang an. In seinem Lied übergab er den Loskrug und die Mädchen den Göttern und bat um Kraft für diejenige Jungfrau, der die Götter das schwere Schicksal aufbürden würden, den Weg in den ewigen Turm antreten zu müssen.
    Sayona kannte das Lied auswendig. Seit sie denken konnte, hatte sie es Jahr für Jahr gehört, während sie in der Geborgenheit des Stammes gestanden und die älteren Mädchen am Lostisch beobachtet hatte. Nun verharrte sie selbst hier, nun konnte es geschehen, dass die Götter die schwere Last auf ihre Schultern legen würden. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, sie begann zu zittern.
    Nach dem Gesang wandte sich der Scheiko noch einmal an die Jungfrauen. Er erklärte ihnen den Ablauf der Auslosung. Wer ein weißes Los zog, sollte vom Losstein weg zum Stamm und zu seiner Sippe gehen. Diejenige Jungfrau, die das rote Los ziehen würde, ermahnte er daran zu denken, dass ihr Opfer die Rettung ihrer acht Schwestern bedeuten würde. »Besser ich, als Ballaya«, schoss es Sayona durch den Kopf, als der Scheiko das sagte.
    Das Gemurmel und der Singsang des Stammes schwollen noch einmal an, als die Älteste und der Scheiko nach den Henkeln des Loskruges griffen und ihn zu den Jungfrauen trugen. Vor jeder schwarz Vermummten blieben sie stehen, warteten, bis sie sich ein Los aus dem Krug geholt hatte, und gingen dann weiter zur nächsten. Als alle neun die mit Wachs versiegelten, fingergroßen Lederröllchen in den zitternden Händen hielten, trugen sie den schwarzen Krug zurück zum Losstein und setzten ihn dort ab. Der Scheiko wandte sich an die neun Jungfrauen. »Und nun öffnet eure Lose!«, rief er laut. Das Gemurmel und der Singsang verstummten, Totenstille trat ein.
    Mit den Fingernägeln ritzten die Mädchen die Wachssiegel auf und entrollten die Lederstreifen. Zweien fielen sie aus den Händen, so sehr zitterten sie. Einigen entfuhren Schreie der Erleichterung, als sie den weißen Fleck auf dem Leder entdeckten. Nacheinander drehten sie sich um, manche wankten zur Menge des Stammes, andere rannten. Eines der Mädchen blieb auf halber Strecke stehen, lehnte sich erschöpft gegen eine Säule und weinte laut.
    Unter den Menschen ihrer Sippe angekommen, lüfteten die Jungfrauen ihre Schleier. Und jetzt schrien auch Mütter, Großmütter, Schwestern und Väter ihre Erleichterung hinaus. Geheule, laute Dankgebete und Jubel erfüllte die Moscherunenhalle.
    Nur an einer Stelle in der Menge jubelte niemand, betete auch keiner – dort, wo die Sippe Eynayas sich um ein weinendes, vom Losstein zurückgekehrtes Mädchen drängte. Stumm vor Entsetzen starrten diese Menschen zur Mitte der Halle, wo der Scheiko und die Älteste sich an die Seite der schwarz verhüllten Gestalt begaben, die allein dort zurückgeblieben war.
    Der Scheiko nahm ihr das Los aus der Hand und hielt es hoch: Die Innenseite des Leders war rot gefärbt. Die Älteste streifte ihr den schwarzen Schleier von den dunklen Locken.
    Es war Ballaya. Ihr bleiches Gesicht war das einer Toten.
    »Zum Hafen!«, zischte Eynaya zwei halbwüchsigen Neffen zu. »Falls ihr Ruulay und Charlondo dort findet, sagt ihnen, was geschehen ist. Sie sollen sich beeilen, wenn sie Ballaya noch einmal sehen wollen…!«
    ***
    Als die Sonne ihren Zenit überquerte, segelte das Fischerboot in eine Flussmündung hinein. Kapitän Ruulay ließ die Segel reffen und kommandierte seine Fischer zu den Ruderbänken. Er hatte es auf einmal sehr eilig. Auch Rulfan und Halil griffen zu den

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