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181 - Der ewige Turm

181 - Der ewige Turm

Titel: 181 - Der ewige Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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rüttelten daran. Und den ganzen Tag über spähte Ballaya ängstlich zu der Tür auf der anderen Seite der Brücke zwischen den beiden Türmen; zur Tür, die in den ewigen Turm führte. Jeden Augenblick fürchtete sie, dort die Turmherren auftauchen zu sehen.
    So hing sie in ihrer halbdurchsichtigen Zuflucht zwischen Himmel und Erde. Oder nein: zwischen Hölle und Erde. Die Turmherren, die Orangus, der schwarze Dämon in der Himmelshütte – Ballaya hatte nicht gewusst, dass ein Mensch so viel Angst aushalten konnte. Sie fragte sich, was sie in ihrem knapp sechzehnjährigen Leben verbrochen hatte, dass der Gott sie mit so viel Unglück strafte. Sie wünschte sich den Tod.
    Vielleicht war es das pelzige Tierchen, das sie vor dem Wahnsinn bewahrte.
    Inzwischen dämmerte die Nacht herauf. Sie sah kaum noch den Wald unter ihrem Versteck, die Orangus zeigten sich schon seit einer Stunde nicht mehr, der schwarze Dämon hatte die Strickleiter wieder hochgezogen, die er irgendwann in der Mittagszeit aus seiner Flughütte herabgelassen hatte, um sie zu sich hinauf zu locken, und das pelzige Tierchen war nur noch ein kleiner dunkler Fleck über ihr neben einem der zerbrochenen und halbblinden Fenster.
    »Die Nacht kommt, was soll ich tun, kleines Tierchen?«, sagte Ballaya. »Vielleicht ist es meine letzte Nacht. Lass mich nicht allein, ich habe solche Angst! Lass mich nicht allein, hörst du?«
    Den ganzen Tag hatte sie mit dem Tierchen gesprochen, seitdem es dort oben neben der Öffnung in der Decke gelandet war. Es war lächerlich, mit einem Tier zu sprechen, noch dazu mit einem so winzigen, aber hätte sie es nicht getan, wäre sie verrückt geworden.
    Plötzlich war es da gewesen, das pelzige Geschöpf, flatterte herum und landete neben der Öffnung an der Decke, wo es jetzt noch saß. Ballaya vermochte nicht zu entscheiden, ob es in der Brücke zwischen den beiden Türmen hauste oder ob es von draußen hereingeflattert war. Zuerst hatte sie geglaubt, es sei ein großes Insekt.
    Aber als es dann von oben mit seinen schwarzen Knopfaugen auf sie herabblickte, erkannte sie, dass es eine kleine Fledermaus war. So groß wie ein kräftiger Männerdaumen, mit verhältnismäßig großen Ohren und einer stumpfen schwarzen Schnauze, die etwas dunkleren Schwingen um den samtigen, hellbraunen Körper gefaltet, hing es an seinen Hinterläufen an der moosigen Decke und schien einzig deswegen dort oben gelandet zu sein, um Ballaya besser beobachten zu können.
    Ballaya schrieb es ihrem vor Angst und Trauer aufgescheuchten Gemüt zu, dass die winzige Fledermaus sie so rührte. »Wenigstens du bist da«, hatte sie geflüstert. »Wenigstens du siehst mein Unglück.« Eine seltsame Anziehungskraft ging von dem niedlichen Wesen aus, eine natürliche Anmut und Liebenswürdigkeit, wie man sie manchmal an Kindern erlebt.
    »Bleib noch«, flüsterte Ballaya jetzt, wo die Nacht angebrochen war. »Lass mich bloß nicht allein.« Über ihr die Lufthütte war ein riesiges dunkles Ei mit einem kleinen ovalen Kasten an seiner Unterseite. Die Fenster des Kastens waren erleuchtet, und eines stand offen. An ihm sah sie den schwarzen Dämon. Sie fühlte sich von ihm beobachtet. Vor Schreck zog sie die Knie an und machte sich so klein wie nur irgend möglich. Der Schreckliche hielt ein Rohr vor den Augen, er schien sie zu beobachten. Ballaya fing an zu beten.
    Irgendwann gelang es ihr, ihren vor Entsetzen starren Blick von der Flughütte zu lösen, und jetzt fielen ihr auch die erleuchteten Fenster im ewigen Turm auf. Sechs oder sieben Fenster waren es, vielleicht einen halben Speerwurf unter ihr. Sie sah Feuerschein flackern, sie sah Rauch aus der Turmfassade quellen, und in einer Mauerlücke entdeckte sie die Umrisse einiger Gestalten.
    Turmherren!
    Vier oder fünf von ihnen standen dort unten am Fenster und sahen zu ihr herauf. Hatten sie nicht ähnliche Guckrohre vor den Gesichtern wie der schwarze Dämon über ihr? Beobachteten sie die Flughütte? Oder beobachteten sie etwa die Brücke zwischen den Türmen?
    »Sie wissen, dass ich hier bin«, flüsterte sie. »Aber nein, es ist ja dunkel…« Etwas flatterte an ihr vorbei, ein Luftzug streifte sie. Der dunkle Fleck oben an der Fensteröffnung war verschwunden. »Verlass mich nicht! Sie haben alles gesehen, sie haben gesehen, wie der Dämon seine Leiter zu mir herunter ließ! Sie wissen, dass ich hier bin…!«
    Wieder ein Luftzug. Ein kleiner Schatten flatterte dicht vor ihrem Gesicht vorbei – die

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