1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Sie mir. Wir stehen vor einer Zukunft, wo keiner sein nächstes Schicksal ahnen oder weissagen kann; fern sei es von mir, Sie jetzt mit in den Strudel zu reißen, dessen Wirbel mich bald ergreifen werden. Nichts soll Sie binden, ja ich würde das unwiderrufliche Ja zurückweisen, weil mein Gewissen mir verbietet, es hinzunehmen. Das aber dürfen Sie mir sagen und das durfte ich Sie fragen, ob ich, wenn der Sturm ausgetobt und die Welle mich nicht begraben hat, einen Blick wieder auf dieses holde, wirtliche Ufer richten darf?«
Mariens Seele wurde während dieser Worte von einem unnennbaren Schmerz zerrissen. Die erste Betäubung war vorüber, sie hatte das Auge geöffnet und sah, vor welchem Abgrund des Jammers sie stand. Die Schuld der Dankbarkeit, welche sie gegen Rasinski fühlte, seine höhere Lebensstellung, sein mehr Ehrfurcht als vertraute Neigung erweckendes Wesen, ja sogar seine nahe Abreise hatten ihr bisher das wahre Gefühl ihres Herzens für den edeln Mann verschleiert und ihr in ähnlichen der Liebe verschwisterten Gestalten vorgespiegelt. Plötzlich war sie aus dem Traume zum vollsten Bewußtsein erwacht und sah nun auch, durch welch eine Kluft das Geschick sie von dem trennte, der ihr Herz gewonnen hatte und begehrte. Er war im Bündnis mit denen, die sie nur als die Feinde ihres Vaterlandes betrachtete; sie konnte ihn als einen edeln Mann ehren, als einen großmütigen Freund lieben, niemals aber ihm angehören, ihr ganzes Wesen mit dem seinigen verschmelzen, ohne Pflichten zu verletzen, von deren Heiligkeit ihre Seele aufs tiefste durchdrungen war. Darum stand sie sprachlos, vor dem Medusenhaupte ihres Schicksals erstarrend, da, und vermochte nicht den unnennbaren Schmerz durch ein sanftes Wort, durch eine milde Träne zu lösen. Rasinski fühlte ihre zitternde Hand in der seinigen; eine ahnende Stimme verriet ihm, was in Mariens Brust vorging; er deutete ihr Schweigen richtig. Doch fragte er noch einmal: »Marie, soll ich keine Antwort haben?«
»O Gott!« rief sie mit einem Tone des Schmerzes, der ihr das Herz zu zerreißen schien, »nie, nie!« Sie riß sich gewaltsam los, schwankte einige Schritte und sank dann ermattet auf einen Sessel nieder.
»Ich verstehe Sie,« sprach Rasinski mit leiser Stimme; »ich verstehe Sie und achte Ihre Gesinnung. Wir können darum aber doch –« hier versagte ihm die Stimme, er mußte innehalten. »Das Los der Völker,« fuhr er nach einigen Augenblicken fester fort, »geht dem Los der einzelnen vor. Ich beklage mich nicht. Von Jugend auf war ich's gewohnt, mein eigenes Geschick durch das der Welt zertrümmert zu sehen. Dieser harten Notwendigkeit können wir nicht entweichen; es ist der Beruf des Mannes, sich darüber zu erheben; ich glaube, ich weiß ihn zu erfüllen! Aber nicht immer widerstreben die Weltgeschicke denen der einzelnen, oft gehen sie Hand in Hand; der Irrtum fordert so viele Opfer als die Wahrheit; ist es nicht genug an denen, die wir dieser bringen?« Diese letzten Worte sprach er sanfter, indem er sich Marien wieder näherte.
Sie sah ihn wehmütig an und erwiderte: »O, ich weiß, was Sie sagen wollen! Sie geben mir unrecht. Vielleicht irrt mein Verstand, vielleicht täuscht sich mein Urteil. Welche die rechte Wahrheit ist, weiß ich nicht; die heilige aber ist die, welche unser Herz uns vorschreibt – ach, zu seiner eigenen Qual!«
Man hörte die Mutter heraufkommen. »Lassen wir das Geschehene verschwiegen bleiben,« sprach Marie, »es würde meine Mutter vielleicht noch tiefer betrüben – und bleiben Sie mein Freund.« Rasinski drückte die dargereichte Hand heftig, aber stumm gegen seine Lippen. Nicht nur der Schmerz zerriß seine Brust, sondern auch die Sorge belastete sie schwer. Denn mit welchen Gefühlen mußte Marie jetzt das Schicksal Ludwigs, welches er ihr enthüllen sollte, vernehmen? Wie sollte sie es ertragen, daß der eigene Bruder der Sache diente, für welche sie ihre Liebe aufzuopfern den Mut und die Pflicht fühlte? Der gefährlichsten Schlacht war er mit leichterm Herzen entgegengegangen als dieser schweren Stunde.
Die Mutter trat ein; Marie ging ihr entgegen. »Unser Freund kommt schon, um Abschied zu nehmen, liebe Mutter«, sprach sie mit kaum vernehmbarer Stimme. – »Ja,« fiel Rasinski ein, indem er der Mutter entgegenging, »in wenigen Stunden werden wir uns vielleicht auf immer trennen müssen.« – »Das wolle Gott nicht,« antwortete die Mutter; »seine Ratschlüsse sind oft milder, als unsere
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