1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
welches Ihr nächstes Vaterland ist, für die Sache des französischen Kaisers? Dürfen Sie nun wohl mit Recht behaupten, daß der einzelne, welcher dem Völkerstrome des ganzen Vaterlandes folgt, als Verräter an demselben handle? Sie werden mir vielleicht erwidern wollen, daß die Völker durch eine politische oder geschichtliche Notwendigkeit getrieben werden, die einzelnen aber Herren ihres Schicksals sind. Sie sind es jedoch nicht mehr als jene. Ein Volk, ein Staat will sein Dasein durch Gehorsam gegen eine Übermacht der Umstände retten; und was will der einzelne anders? Warum sollte diesem als Verbrechen angerechnet werden, was jenem gestattet ist? Und bestehen Preußens, bestehen Österreichs Heere nicht aus einzelnen? Hätten alle diese nicht, ein jeder für sich, die Verpflichtung, der allgemeinen Notwendigkeit zu widerstreben? Und gäbe es alsdann noch eine allgemeine? Nein, meine Freundinnen; ein Unglück haben Sie vielleicht zu beweinen, aber kein Verbrechen der Ihrigen zu betrauern oder zu vergeben. Ich fordere denjenigen auf, der zu behaupten wagt, daß er an der Stelle dieser beiden Jünglinge anders gehandelt hätte. Weshalb sollten sie als nutzlose Opfer fallen, wenn es noch Mittel gab, Leben und Kräfte für eine bessere Zeit zu sparen? Wenn dereinst Deutschland so ganz und tief von dem Gefühle der Entwürdigung seiner heiligsten Rechte durchdrungen ist, daß es sich mächtig aufrafft und in voller, einiger Masse gegen Frankreich andringt, dann mag es auch für jeden einzelnen Pflicht sein, zu den Fahnen des Vaterlandes zu eilen und jede Gemeinschaft mit dem alten Feinde desselben aufzuheben; alsdann werden aber auch unsere Freunde nicht fehlen. Und wahrlich, nicht ich will derjenige sein, der sie verurteilt, wenn sie dann einen Bund brechen, den nur die eiserne Hand der Notwendigkeit zusammenschmiedete, sowenig wie ich sie jetzt deshalb verurteilen kann, daß sie sich unter diese schwere Hand beugen.«
Marie saß, ein stummes Bild des Schmerzes, da; ihr Ohr vernahm zwar Rasinskis Worte, doch von ihrem Herzen glitten sie wie matte Pfeile ab. Allein sie schwieg, teils weil sie wenig zu entgegnen wußte und sich gegen Rasinskis Verstandesgründe nur durch widerstrebende Gefühle gewaffnet fand, teils weil sie ihn zu kränken besorgte, endlich aus Erschöpfung. Denn zu deutlich fühlte sie, daß hier kein Widerstreben fruchten könne und nichts übrigbleibe, als das zermalmende Rad des Schicksals über sich weggehen zu lassen. Die Mutter, nicht so heftig in ihren Gefühlen, nicht so entschieden einer entgegengesetzten Ansicht, war für Rasinskis Trost zugänglicher. »Es ist schön von Ihnen,« sprach sie, »daß Sie uns durch Hoffnungen aufrichten wollen, wenngleich dieselben noch fern in verhüllter Zukunft schlummern. Aber mein großmütiger Freund, bedenken Sie, wie schwer es ist, ein Mutterherz zu beruhigen, und vergeben Sie mir also, wenn Ihr mildes Bestreben durch die Gefühle meiner Brust vereitelt wird. Welche Sorgen umschweben das Haupt einer Mutter schon, wenn sie den Sohn hinsendet in einen Kampf, den sie selbst für einen heiligen hält, für welchen jeder Sohn des Vaterlandes freudig Blut und Leben opfern muß! Wie ängstlich wägt sie die Gefahren, die ihn bedrohen, wie zählt sie die Minuten, in denen sie keine Kunde von ihm erhält! Und nun vollends, wenn sie weiß, daß sein Herz nicht für die Sache schlägt, der er zu dienen gezwungen ist; daß er die Waffen trägt wie eine Kette, das Lager ihm ein Gefängnis, der Tag der Schlacht ein Tag des Blutgerichts ist! O gütiger Himmel, wie soll da Trost und Hoffnung Eingang in das gequälte Herz einer Mutter finden?«
Nach diesen Worten, mit äußerster Anstrengung gesprochen, lehnte sie das Haupt müde gegen die Wange der Tochter und vergoß bittere Tränen. Rasinski, so fest er allen Stürmen des Lebens von jeher zu trotzen gewußt hatte, fühlte sich doch durch solche Angriffe auf sein Herz fast bezwungen. Sanft ergriff er die Hand der Mutter und sprach: »Wer wollte Ihnen die Gerechtigkeit Ihrer Schmerzen streitig machen? Sie sind das einzige Heiligtum des Duldenden, und glauben Sie mir, auch ich fühle dies in diesem Augenblicke tiefer, als Sie vermuten.« Dabei warf er einen schwermütigen Blick auf Marien, welche, gleich einem weinenden Heiligenbilde, blaß, schweigend ihm gegenübersaß. Ein leiser Seufzer entstieg ihrer Brust, als Rasinskis Auge dem ihrigen begegnete; doch wandte sie es nicht ab, sondern blickte ihn sanft und
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