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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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den Himmel auf, als wolle sie sagen: »Dir, alliebender Vater, vertraue ich die Heilung dieses blutenden Herzens, dem du in derselben Stunde den Bruder und den Geliebten zugleich raubst.« Rasinski betrachtete sie, seitwärts stehend, unbemerkt; er fühlte, daß ihn dieses Bild für ewig durchs Leben begleiten werde.
    Ein Posthorn ließ sich auf der Straße hören. Marie wandte sich erschrocken um: »Müssen Sie fort?« fragte sie ängstlich leise. – »Es gilt nicht mir«, antwortete Rasinski. Dieser Zufall bildete den Übergang aus jenem Augenblick der Stille zu einem neuen Gespräch. Denn wie vieles war noch zu verabreden, welche Grüße hatten Mutter und Schwester an Ludwig zu senden! So verfloß eine Stunde; da war der Augenblick der Trennung gekommen.
    Marie verschwand in einem Nebenzimmer; nach einigen Minuten kehrte sie zurück mit einem kleinen Taschenbuche in der Hand. Sie reichte es Rasinski und sprach fast unhörbar: »Wollen Sie der Überbringer dieses Andenkens für meinen Bruder sein?« Er bejahte es stumm.
    »Doch die Mutter muß mir erst etwas dazugeben«, setzte sie errötend hinzu und näherte sich derselben. »Eine Locke«, sprach sie und schickte sich mit einer anmutigen Bewegung an, sie der Mutter abzuschneiden, die es willig geschehen ließ. Marie band das Haar mit einer seidenen Schleife, welche sie schon in der Hand hielt, dann legte sie der Mutter ein Blatt hin, indem sie sagte: »Ein Wort, liebe Mutter; ich will die Locke darin einschlagen.«
    Die Mutter nahm die eingetauchte Feder, die Marie ihr brachte, und schrieb mit von Tränen verdunkelten Augen: »Die Hand Gottes walte über dir! Deine Mutter!« – –»Mehr vermag ich jetzt nicht«, sprach sie erschöpft. Marie legte die Locke in das sorgsam gefaltete Papier, nahm die Brieftasche noch einmal aus Rasinskis Hand, öffnete sie und legte das Haar ein. Indem, sie dieselbe zurückgab, sprach sie leise: »Öffnen Sie, wenn Sie allein sind.«
    Es mußte geschieden sein. Rasinski drückte noch einen ehrfurchtsvollen Kuß auf die Hand der Mutter, einen heißen auf Mariens zitternd dargebotene Rechte und ging dann, stumm und schnell hinaus, denn er fühlte, daß seine männliche Kraft den Schmerz nicht länger zu beherrschen vermochte.
    Auf seinem Zimmer erwartete ihn nur sein Reitknecht Andreas; Boleslaw war noch mit Einpacken beschäftigt. Eben kündigte der blasende Postillon den vorfahrenden Reisewagen an. Andreas eilte hinunter. Rasinski benutzte hastig den Augenblick, wo er allein war, und öffnete Mariens Geschenk. Er fand ein Blatt, überschrieben: »Dem Freunde.« Er entfaltete es; es lag eine zarte Locke von Mariens Haar darin. Sie hatte die Worte daruntergeschrieben: »Dem unvergeßlichen Freunde die treue, liebende, doch auf ewig von ihm getrennte Freundin. Marie.« Rasinski betrachtete das Geschenk lange mit stummem Schmerz; er drückte es an die Lippen, an die Brust. Andreas trat ein: »Es ist alles zur Abreise fertig, Herr Graf!«
    Er schauerte wie vom Fieber geschüttelt zusammen. »So gib mir den Mantel«, rief er rasch und kurz, hüllte sich ein, drückte sich die Reisemütze tief in die Stirn, ging hinab, stieg mit Boleslaw in den Wagen und rollte in die Nacht hinaus, welche sich, ein Bild seiner Zukunft, düster, ohne freundliche Sterne über die Erde lagerte.

Drittes Buch.
Erstes Kapitel.
    Es war an einem Sonntage in den sptätern Nachmittagsstunden, als Jaromir, Ludwig und Bernhard zuerst von einer Anhöhe die Türme von Warschau erblickten. Der Weg hatte sich lange in einem dunkeln Fichtenwalde, der keine Aussicht gestattete, hingezogen. Jetzt schlug er eine Ecke und klimmte einen mit Heidekraut und Brombeergebüsch überwachsenen Hügel hinan. Von dem Gipfel desselben übersah man die Ebene weithin; an ihren fernen Grenzen stiegen Warschaus stolze Paläste und Türme empor. Der feurige Jaromir rief dem Postillon ein »Halt« zu und sprang mit freudig glänzenden Augen aus dem Wagen. »Das ist meine Vaterstadt!« rief er aus. »Acht Jahre habe ich sie nicht gesehen; aber ich kenne noch jedes Haus, jeden Giebel, jede Turmspitze hier im ganzen Umkreis. Kommt, meine Freunde, steigt ein wenig aus und laßt uns zu Fuß den Hügel hinabgehen. Hier durch das Brombeergebüsch zieht sich ein Pfad, der nachher über die Wiesen wieder auf die große Straße führt. Im Gehen zeige ich euch die merkwürdigen Orte hier ringsumher; denn soweit euer Auge reicht, entdeckt ihr keinen Kirchturm, an dem nicht polnische Helden begraben

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